POLIT.BÜRO


***** hervorragend   **** lesenswert   *** Licht und Schatten

** nur bedingtes Vergnügen   * überflüssig


Politiker als Witzfiguren

Der Beitrag der politischen Comedy zur Debattenkultur in Deutschland

 

Es wäre von demoskopischem Interesse, wenn sich einmal ein forscher empirischer Sozialforscher für das Politbarometer an den Saal-Ausgängen der großen TV-Karnevals-Veranstal­tungen in Mainz, Köln, Aachen und Veitshöchheim positionieren und die Maskierten mit einer Nach-Frage konfrontieren würde: „Sie haben etwa drei bis vier Stunden vielen politischen Faschingsreden gelauscht und sich dabei heftig auf die Schenkel geklopft. Welcher Partei würden Sie denn nun morgen Ihre Stimme geben?“

Bei der Antwort müsste sich eigentlich - auch für den Fernsehzuschauer - ein Dilemma ergeben, das dem äußerst fragwürdigen Status des heutigen „politischen“ Kabaretts geschuldet ist. Denn was tun, die Herren und Damen, die auf den Bühnen ihre vermeintlich kritischen Wortbeiträge gereimt und ungereimt abgeben: sie vermitteln ein verheerendes Bild der politischen Klasse in der Demokratie. Wir werden - mit augenzwinkernden Hinweis auf den Fachkräftemangel - im Grunde von einer Schar unfähiger Dilettanten regiert, die keinerlei Charisma versprühen, irgendwo zwischen Ballermann und Psychiatrie anzusiedeln sind und als Kinderbuch-Autoren besser aufgehoben wären.

Aber noch schlimmer: auch die Opposition ist keine Alternative, weil Herr Merz von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen spaziert und weil Frau Wagenknecht lieber ihren gealterten Ehemann pflegen sollte. Und war da beim „satirischen“ Rundumschlag nicht noch eine Partei namens AfD, die mindestens genauso viel Häme verdient hätte? Hier bleiben unsere beflissenen Büttenredner erstaunlich kurzatmig und belassen es bei politisch-korrekten Bekenntnissen zur parlamentarischen Demokratie, der man fünf Minuten vorher noch ein erbärmliches Zeugnis ausgestellt hat.


Es mag vermessen sein, bei einem Narrentreffen politische Rationalität anzumahnen, aber sich immer an Äußerlichkeiten und Vordergründigkeiten abzuarbeiten, bleibt doch etwas dünn. Wer sich nur über Angela Merkels Raute, Olaf Scholz´ Augenklappe, Donald Trumps Frisur, Ricarda Langs Körperfülle und über weibliche Doppelnamen amüsieren will, der hat eben vergessen, dass Politik (und auch die Kritik daran!) vornehmlich aus Inhalten besteht. Der intellektuelle Horizont von unterfränkischen Oberlehrern, Mainzer Zahnärzten und Kölner Bauchrednern reicht aber offensichtlich über das Oberflächliche nicht hinaus. In diesen Zusammenhang passt auch die verkürzte Wahrnehmung von Herrn Söders Veitshöchheimer Kostümierung, bei der geflissentlich vergessen wird, dass Reichskanzler Bismarck vor knapp 150 Jahren für die Sozialistengesetze, also das Verbot sozialdemokratischer Vereine und Organisationen verantwortlich war. Und im Publikum sitzen gemütlich feixend die Herren der Geistlichkeit, die sicher sein können, dass ihre Institutionen ungeschoren davonkommen.

Insgesamt lässt sich der Eindruck nicht wegreden, dass der Fasching, der einstmals eine fast schon revolutionäre Veranstaltung war, von einer Koalition der Kleinbürger (Nürnbergs ehemaliger Kulturreferent Hermann Glaser hätte von deren „Spießer-Ideologie“ gesprochen!) auf und vor der Bühne okkupiert worden ist, dass hinter der Fassade der Kritik an Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie das heimliche Ideal vom Führer und ein feuchter Traum vom guten Alleinherrscher steckt.

Den Herren und Damen Priol, Müller, Kantz, Welke, Hassknecht und Gruber (um nur ein paar Exponenten jener spar-witzigen Besserwisser zu nennen) wäre unbedingt die Frage zu stellen, welchen Beitrag sie zur demokratischen Debattenkultur leisten (wollen) und ob sie nicht längst in die irrationale Erregungs-Attitüde der sozialen Medien abgedriftet sind. Da wünscht man sich nach den inflationären Rundumschlägen fast mal ein satirisches Heilfasten. Noch besser wäre ganz was Neues: die Produktion eines TV-Comedy-Abends, der der rücksichtslosen (Selbst-)Kritik der Comedy gewidmet ist. Arbeitstitel: Hart, aber unfair.


Emanuel Richter: Seniorendemokratie

Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik   ***

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2301 (Berlin 2020)

ca. 260 Seiten, 20,00 Euro

 

Emanuel Richter, emeritierter Professor für politische Wissenschaft an der TH Aachen, will mit diesem Buch einen Beitrag zu einer Debatte leisten, die durch Kampfbegriffe wie Gerontokratie und Generationenkonflikt schon ein bisschen aufgeheizt ist. Sachlichkeit täte hier Not, doch Richters Analyse schafft eher neue Überspitzungen und bringt nur sehr vage Lösungsansätze.

Die Fakten sind eigentlich unstrittig und werden von Richter noch einmal relativ ausführlich dargestellt: die demografischen Veränderungen der letzten 50 Jahre führen zu einer Überalterung der Gesellschaft (euphemistischer könnte man auch von einer „Unterjüngung“ sprechen), die soziale Ungleichheit zwischen Luxus-Senioren und Alters-Prekariat nimmt ab 60+ eher noch zu. Die politischen Strategien zur Behebung dieser beiden Probleme sind bislang eher unzureichend und wenig nachhaltig, obwohl jeder - auch die Bundesregierung schon im Jahre 2009 - weiß: „eine so gute öffentliche Versorgung und ein so frühes Rentenalter, wie es viele heutige Seniorinnen und Senioren genießen, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben“.

Richter geht es jedoch mehr um die Rolle der Senioren in einer verunsicherten Demokratie und in einer globalisierten Markt-Ökonomie. Er spricht von einem industriekapitalistischen Leitbild der nicht nachlassenden Betriebsamkeit: „die Menschen sollen arbeiten, solange es nur geht, und sie sollen konsumieren, bis sie tot umfallen“. Andererseits: ist es nicht ein Stück Lebensqualität, wenn man dank des medizinischen Fortschritts und dank einer vernünftigen Lebensführung auch im Abschnitt 65+ noch zu selbstgewählter Arbeit und zu Studienreisen in die weite Welt fähig ist. Vollkommen unangemessen ist Richters Kritik an der Funktion der vielfältigen und ehrenamtlichen Senioren-Selbsthilfe, die er als Outsourcing von Staatsaufgaben und sogar als Zeichen von partiellem Staatsversagen (!) diskriminiert. Dies ist eine Entwürdigung von zahlreichen älteren Menschen, die ihr zivilgesellschaftliches Engagement in Pflegeeinrichtungen, bei Tafeln und in Alten-Akademien ausüben.

Der zweite kritische Ansatz von Emanuel Richter ist das besonders in der Werbung vermittelte Ideal der Juvenilisierung, der Aufruf zu altersloser Uniformität durch gesundheitliche Selbstoptimierung. Dieses Klischee sieht er im Spannungsfeld zwischen melancholischer Sicht auf die Hinfälligkeit des Alters sowie der sozialen Isolation und einer Bewunderung von würdevoller Altersweisheit, die sich in der Politik in einem punktuell auftretenden Altersbonus („elder statesman“) ausdrückt. Manche Thesen erinnern stark an die Kritik des Freizeitsports („Trimm Dich“), wie er in den späten 1960er Jahren formuliert wurde: damit würde man sich nur für die weitere Verwendung in einem ausbeuterischen Arbeitsmarkt fit machen.

Das politische Engagement von älteren Menschen unterscheidet sich eigentlich nicht substanziell von dem anderer Altersgruppen. Wer (im Beruf oder im Alter) unter prekären materiellen Lebensbedingungen zu leiden hat, fällt durch geringere Wahlbeteiligung und reduzierte politische Informiertheit aus. Politische Partizipation findet man vor allem bei finanziell abgesicherten Menschen mit höherem Bildungsabschluss. Denen muss man dann nicht unbedingt erzählen, dass es nicht nur um die Vertretung eigener Interessen, sondern auch um den Blick auf die Generationengerechtigkeit gehen sollte.

Richters abschließende Parole - „Demokratie statt Demenz“ - darf als nette Alliteration, aber kaum als ernsthafte politische Botschaft abgehakt werden.

 

https://www.suhrkamp.de/buch/emanuel-richter-seniorendemokratie-t-9783518299012


Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums.

Eine Biografie ****

Verlag C. H. Beck (München 2020)

ca. 480 Seiten, € 28,00

 

Henry Kissinger ist Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Fürth, bekam dort schon 1973 die Gol­dene Bürgermedaille (fast gleichzeitig mit dem Friedensnobelpreis), wurde mit einer Ehren­tafel in der Fußgängerzone bedacht, sein Name wurde am Dr.-Henry-Kissinger-Platz ver­ewigt. Doch die öffentliche Belobigung ist seit geraumer Zeit einer eher kritischen Sichtweise gewichen. Auf der Ehrentafel haben Unbekannte die Aufschrift „Kriegsverbrecher“ platziert, wegen der Ermor­dung des chilenischen Generals Rene Schneider im Vorfeld des Pinochet-Putsches (1973) wurde Zivilklage gegen Kissinger in Washington D.C. erhoben, und nun wagt mit Bernd Greiner ein deutscher Historiker anhand einer kritischen Biografie, die den Unter­titel „Wächter des Imperiums“ trägt, den „Scheinriesen“ Kissinger weiter vom Sockel der Bewunderung zu stoßen.

Greiners Kritik hat im Wesentlichen zwei Zielrichtungen: zum einen die Kritik der amerikani­schen Außenpolitik in den 1960er und 70er Jahren, eben jener Zeit, in der Henry Kissinger zunächst als Sicherheitsberater des Präsidenten Nixon (1969 - 1975), dann als Außenminister unter den Präsidenten Nixon und Ford (1973 - 1977) maßgeblich an der Gestaltung der au­ßenpolitischen Grundlinien mitwirkte. Dabei lässt sich Kissingers außenpolitisches Credo, das er schon mit seiner Dissertation (1954) und später mit dem Bestseller „Kernwaffen und Aus­wärtige Politik“ (1957) entwickelte, in drei Thesen zusammenfassen:

1. Amerikas Vorherrschaft ist unverzichtbar, Stabilität gibt es nur mit einem amerikanischen Übergewicht.

2. Eine Führungsmacht braucht den Willen zur Gewalt, Verhinderung von Kriegen kann nicht das primäre Ziel der Außenpolitik sein; Außenpolitik muss vom Militärischen ausgehend ge­dacht werden, da reine Diplomatie ins Leere greift.

3. Macht beruht auf Angst - auch vor einer Überreaktion des Konfliktgegners.

Mit dieser „realistischen“ Argumentationslinie bestimmte Kissinger die amerikanische Au­ßenpolitik in den Zeiten des Vietnam-Krieges, da der amtierende Präsident Nixon durch die nationalen Krisen (Pentagon-Papers, Watergate-Skandal) gelähmt war. Jede Annäherung an die UdSSR den Hauptgegner im Kalten Krieg empfand Kissinger als Schwäche, Bundekanzler Willy Brandt titulierte er in internen Besprechungen als „versoffenen Trottel“, als „dumm und faul“. Veränderungen der Machtstrukturen im engeren Machtbereich der USA durften nicht zugelas­sen werden, also musste der chilenische Präsident Allende gestürzt und durch den Diktator Pinochet ersetzt werden. Dass man trotz dieser überprüfbaren Haltungen und Handlungen einen Friedensnobelpreis bekommen kann (1973), gehört zu den vielen fragwürdigen Entschei­dungen dieser Organisation.

Greiner diagnostiziert aber auch ein massives charakterliches Defizit des Henry Kissinger: er bezeichnet ihn als skrupellos, zynisch, geprägt von Selbstüberschätzung, Eitelkeit und Intri­ganz. Er zitiert Weggefährten, die Kissinger als „egozentrischen Irren“ titulieren und seine „intellektuelle Arroganz“ bemängeln. Eine wichtige Quelle sind in diesem Zusammenhang die sogenannten White House Tapes, Aufzeichnungen die im Auftrag des Präsidenten von allen Besprechungen im Oval Office gemacht und im Zuge des Impeachment-Verfahrens ge­gen Nixon veröffentlicht wurden. Wer diese Passagen liest und dabei erkennt, auf welchem sprachlichen Niveau Weltpolitik verhandelt wurde (Nixon: „Ich will, dass Nordvietnam zu Klump gebombt wird“), muss sich über die Eskapaden eines Donald Trump nicht mehr wun­dern.

So ist Greiners Biografie eine wirklich gut geschriebene, manchmal unterhaltsame, aber nie den wissenschaftlichen Zugriff vergessende Arbeit, allerdings mit einer klaren Positionierung, an der sich Leser reiben könne, die Kissinger für „Amerikas besten Außenminister aller Zei­ten“ (so einmal Kissinger über sich selbst) halten.

 

https://www.chbeck.de/greiner-henry-kissinger/product/30934877


Von 0 auf 100 in 63 Jahren

Über das Briefwählen in Deutschland und anderswo

 

Als 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, standen im Art. 38 Abs. 1 die bis heute gültigen fünf Wahlrechtsgrundsätze: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wer­den in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“.

Acht Jahre später wurde neben dem Urnengang die Möglichkeit der Briefwahl eingeräumt, gedacht als Ausnahme-Angebot für Kranke und Behinderte, Urlauber und Sonntagsarbeiter. Im Sinne der All­gemeinheit der Wahl wollte man diesen Personengruppen die Teilnahme erleichtern. Dazu musste aber ein Wahlschein beantragt und mussten glaubhafte Gründe vorgebracht werden.

Ab Dezember 2008 wurde das Wahlrecht dahingehend neu gefasst, dass jeder Wahlberechtigte einen Wahlschein erhält; Angabe und Glaubhaftmachung von Gründen ist seitdem nicht mehr erforderlich, und viele bezeichnen die Briefwahl daher etwas abschätzig als „Bequemlichkeitswahl“.

Es ist nicht verwunderlich, dass seit 1957 der Anteil der Briefwähler signifikant gestiegen ist. Bei den Bundestagswahlen kletterte die Zahl von 4,9 % (1957) auf 28,6 % (2017), bei den Wahlen zum EU-Parlament von 10,9 % (1979) auf 28,4 % (2019). Die letzte Wahl zum Bayerischen Landtag 2018 zeigte bereits einen Anteil der Briefwähler von 38,9 %, und bei den bayerischen Kommunalwahlen am 15. März 2020 - kurz vor dem ersten Lockdown während der Corona-Pandemie - zogen es ca. 44 % der Bürger vor, ihre Stimme per Brief abzugeben. Die 14 Tage später notwendig gewordenen (Ober-) Bürgermeister-Stichwahlen wurden dann aus infektionsschutzrechtlichen Gründen aus­schließlich als Briefwahl durchgeführt, dies verordnete der neue Art. 60a des bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes. Dass die am 14. März 2021 stattfindenden Landtagswahlen in Rhein­land-Pfalz und Baden-Württemberg sowie die Kommunalwahl in Hessen als ausschließliche Briefwahl abgehalten werden, erscheint momentan gut vorstellbar.

Die Zunahme der Briefwähler rief in den vergangenen Jahren immer wieder Kritiker auf den Plan: durch die Möglichkeit der Briefwahl sei eine zeitgleiche und öffentliche Wahl nicht mehr gegeben, die Grundsätze der freien und geheimen Wahl seien nicht mehr gewährleistet, eine Kontrolle, ob der einzelnen Wähler sein Kreuz ohne Druck von anderen Personen und unter Berücksichtigung des Wahlgeheimnisses gesetzt habe, sei nicht mehr möglich. Dreimal (1967, 1981 und 2013) wurde sogar das Bundesverfassungsgericht mit einer Wahlprüfungsbeschwerde angerufen, jedoch stets ohne Er­folg. Als hauptsächliche Begründung wurde angegeben, dass die Briefwahl dem Ziel diene, „eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen“ und „die Grundsätze der freien und geheimen Wahl sowie der Öffentlichkeit der Wahl“ nicht substantiell verletze. Die Karlsruher Richter konstatier­ten auch eine „zunehmende Mobilität in der heutigen Gesellschaft“ und ein „verstärkte Hinwendung zu individueller Lebensgestaltung“.

Neue Diskussionen um die Briefwahl löste unlängst die US-Präsidentschaftswahl aus. Der Amtsinha­ber Donald Trump behauptet, die Briefwahl - von der zuletzt etwa ca. 32 Millionen Amerikaner Ge­brauch machten - öffne dem Betrug Tür und Tor. Dieser Kritik haben sich in Deutschland nun auch führende Vertreter der AfD angeschlossen. So äußerte der stellvertretende Bundessprecher Stephan Brandner: „Briefwahlen ermöglichen ein hohes Maß an Manipulation; bereits bei vergangenen Wah­len wichen die Ergebnisse der Briefwahl signifikant von denen der Präsenzwahl ab“. Bisherige Über­prüfungen durch lokale Gerichte in den Vereinigten Staaten konnten den Verdacht aber nicht bestä­tigen, und amerikanische Politikwissenschaftler stufen die Manipulationsgefahr als äußerst gering ein: in der Vergangenheit seien nur rund 0,0025 % der abgegeben Stimmen von Betrug betroffen ge­wesen. Anschaulich und zugespitzt formulierte das Brennan Center for Justice: Dass ein Amerikaner die Briefwahl manipuliere, sei weniger wahrscheinlich, als vom Blitz getroffen zu werden.


Wählen ist keine Privatsache!

Interview mit Professor Rolf Gröschner (15.11.2020)

 

Herr Professor Gröschner, Sie haben schon 2013 in einem Zeitungsartikel auf die Formulierung „wählen gehen“ hingewiesen. Was wollten Sie damit unterstreichen?

Wer wählen „geht“, tritt aus der Sphäre des Privaten heraus und betritt im Wahllokal den Raum des Öffentlichen. Unterstreichen wollte ich damit, dass Wahlen keine Privatsache sind, sondern eine öffentliche Angelegenheit in der ursprünglichen Bedeutung von „res publica“.

 

Vom Urnengang über die Briefwahl zur häuslichen Online-Abstimmung. Halten Sie diese Entwicklung für zwangsläufig und gerechtfertigt?

Keinesfalls! Der Charakter der Wahl als öffentliche Angelegenheit verbietet die Privatisierung des Wahlaktes. Die Online-Abstimmung in den eigenen vier Wänden darf deshalb ebenso wenig zur Regel werden wie die traditionelle Briefwahl. Das folgt nicht etwa aus demokratischem Mehrheits-Prinzip, sondern aus republikanischem Öffentlichkeits-Prinzip.

 

Wie beurteilen Sie die Hervorhebung des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl, auf die das Bundesverfassungsgericht immer wieder hingewiesen hat?

Karlsruhe setzte dieses Prinzip ursprünglich als Argument für eine möglichst hohe Wahlbeteiligung ein, um damit die Zulässigkeit der Briefwahl zu begründen. In seinem Wahlcomputer-Urteil aus dem Jahr 2009 hat das Gericht jedoch die „Öffentlichkeit“ der Wahl, die in den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs.1 GG nicht genannt ist, erstmals auf das Prinzip der Republik gestützt. Das verdient für die kritische Beurteilung der Briefwahl rechtlichen Beifall und politische Beachtung.

 

Gibt es für Sie einen Prozentwert, ab dem die Briefwahl in Konflikt mit den Wahlrechtsgrundsätzen nach Art. 38 Abs.1 GG gerät?

Das Verhältnis zwischen der verfassungsrechtlichen Regel einer öffentlichen Wahl und der Ausnahme nicht-öffentlicher Briefwahl verlangt eine signifikant höhere Zahl der Regelfälle. In Analogie zu Zwei-Drittel-Mehrheiten, die das Verfassungsrecht für grundlegende Entscheidungen vorschreibt, liegt der kritische Wert für mich bei 33 Prozent.

 

Sie schrieben 2013: „Andernfalls ist das Wahlrecht nachzubessern“. Welche Vorschläge haben Sie dafür?

Generell wird es darum gehen müssen, die „unbegründete“ Briefwahl abzuschaffen und die Berechtigung, einen Wahlschein zu beantragen, wieder an die früher geltenden Hinderungsgründe wie Abwesenheit, Krankheit oder Behinderung zu binden.

 

Ist das gesundheitliche Sicherheitsrisiko während einer Corona-Pandemie für Sie ein ausreichender Grund für die quasi Abschaffung des üblichen Wahlgangs?

Ja. Nach Entfallen des Risikos ist aber sofort und unbedingt zur alten Regelung zurückzukehren.

 

Sie haben in mehreren Schriften den Geist der republikanischen Freiheit beschworen. Beinhaltet dies nicht auch die Freiheit selbst über die Art des Wählens zu entscheiden?

Eine Entscheidung für die Briefwahl ist durch Art. 38 Abs.1 GG grundrechtlich gewährleistet. Die individuelle Berufung auf dieses Grundrecht zum Verbleib in der Privatsphäre sollte aber hinter jenem institutionellen Verständnis zurückstehen, das die Wähler im republikanischen Geiste einer öffentlichen Angelegenheit zur Wahl „gehen“ lässt - wenn kein Hinderungsgrund vorliegt.

 

Der US-Präsident Donald Trump hat die Briefwahl als Quelle des Wahlbetrugs diskreditiert. Was halten Sie von diesem Vorwurf?

Wie man lesen und hören kann, hat er dafür keinerlei Beweise vorgelegt. Der Vorwurf entbehrt daher jeder Grundlage.

 

Prof. Dr. Rolf Gröschner war von 1993 bis zur Pensionierung 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Jena


Interview mit Renate Schmidt (27.2.2017)

 

„Ich muss nicht jedes Recht, das ich habe, auch wahrnehmen!“

 

Wer waren die Initiatoren der interfraktionellen Bundestags-Initiative für ein Wahlrecht ab Geburt im Jahre 2003 und wie breit war die Basis im Bundestag?

 

Einer der Initiatoren für den Antrag „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“ war der leider schon verstorbene FDP-Kollege Klaus Haupt, bei der SPD war Wolfgang Thierse in dieser Frage sehr aktiv, bei der CSU Johannes Singhammer und bei den Grünen trat Antje Vollmer für das Anliegen ein. Ich konnte das nur ideell unterstützen, da ich zu dieser Zeit Ministerin, aber kein Mitglied des Bundestages war. Insgesamt waren es etwa 50 Abgeordnete aus allen Fraktionen des damaligen Bundestages, die sich dieser Forderung angeschlossen haben. Es bedurfte allerdings einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft, um das Thema auf die Tagesordnung im Plenum zu hieven. Beim zweiten Anlauf 2009 wurde es noch schwieriger, sodass wir noch mehr parlamentarischen Druck entwickeln mussten. Die Debatte fiel dann allerdings sehr knapp aus, da viele Abgeordnete der Meinung waren, man habe das Thema doch schon beim ersten Mal klar abgelehnt.

 

Wer waren die „Bremser“ in den Fraktionen?

 

Das waren in allen Fraktionen überwiegend die Rechtspolitiker, die sinngemäß äußerten „Wie kann man so etwas überhaupt wollen?“. Als ich noch bayerische SPD-Landtags-Fraktionsvorsitzende war, habe ich das Thema einmal bei einer Klausursitzung abstimmen lassen - es gab gerade mal drei befürwortende Stimmen. Danach fand ein Vortrag der ehemaligen Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit statt, und plötzlich war die überwältigende Mehrheit der Fraktion der Meinung, dies sei ein Thema, das man weiter verfolgen sollte. Das heißt für mich: Wenn man sich mit dem Thema wirklich argumentativ auseinandersetzen würde, wäre die Forderung heute schon mehrheitsfähig.

 

Wer war ihr argumentativ härtester Gegenspieler bei dieser Streitfrage?

 

Wenn ich zu dem Thema eingeladen wurde, waren eigentlich meist Befürworter im Publikum. Und sogar die beiden ehemaligen Bundesverfassungsrichter Roman Herzog und Paul Kirchhof haben mich in dieser Frage unterstützt.

 

Sehen Sie eine starke außerparlamentarische Lobby für die Forderung nach dem Wahlrecht ab Geburt?

 

Die gibt es zugegeben im Moment nicht. Dies ist für mich ein weiteres Symptom dafür, dass unsere Gesellschaft von den Interessen der Älteren dominiert wird. Den heutigen Rentnerinnen und Rentnern sind andere Dinge wichtiger; und selbst bei Jugendlichen findet man dafür nicht durchgehend Zustimmung, vor allem, wenn sie hören, dass bis zu einem gewissen Alter ihre Eltern stellvertretend für sie wählen können.

 

Was sagen Sie Jugendlichen, die gar nicht wählen wollen, weil sie sich nicht „fit“ dafür fühlen?

 

Das trifft doch für viele Menschen - nicht nur für Jugendliche - zu und spricht keineswegs gegen ein Wahl-Recht; zum Glück haben wir ja keine Wahl-Pflicht. Ich muss nicht jedes Recht, das ich habe, auch tatsächlich wahrnehmen. Trotzdem ist es gut, dass es das Recht gibt, für diejenigen, die es gerne haben.

 

Woher kommt Ihr Optimismus, dass diese Forderung noch umgesetzt wird?

 

Ich glaube, dass die in dieser Frage bestehende Ungerechtigkeit noch mehr Menschen bewusst werden wird. Wir werden Diskussionen um andere Arten der Wahlrechtsänderung bekommen und dabei wird die Diskussion um ein Wahlrecht ab Geburt wieder aufflammen. Ich habe eigentlich noch kein Thema auf meiner persönlichen Agenda gehabt, das nicht doch noch Wirklichkeit geworden ist.

 

Würden Sie die Forderung nach einem Wahlrecht ab Geburt auch ohne den demografischen Wandel in Deutschland stellen?

 

Der demografische Wandel ist für mich eine zusätzliche Begründung, aber die Forderung ist auch grundsätzlich richtig, weil die Allgemeinheit der Wahl mit das größte Gut unserer Verfassung ist. Wenn man auf die Geschichte des Wahlrechts zurückblickt, wird man feststellen, dass die Argumente, die heute gegen das Wahlrecht für Kinder vorgetragen werden, vor etwa 150 Jahren gegen das Wahlrecht für Frauen verwendet wurden. Man könnte die Texte aus dem 19. Jahrhundert wörtlich zitieren und nur „Frau“ durch „Kind“ ersetzen. Insofern ist es heute für mich eine Selbstverständlichkeit dass jeder Staatsbürger das Wahlrecht erhält, unabhängig davon, ob er es auch wahrnimmt. Der Gedanke der Stellvertretung der Eltern für das Kind ist in vielen Lebensbereichen unumstritten, warum soll das nicht auch beim Wahlrecht funktionieren?

 

Was hat sich in den letzten sechs Jahren in der Frage „Wahlrecht ab Geburt“ getan?

 

Im Moment gibt es zugegeben nicht sehr viele Bundestagsabgeordnete, die das zu ihrem Anliegen machen. Doch ich bin sicher, dass gerade junge Abgeordnete das Thema wieder in die neue Legislaturperiode einbringen werden.

 

Wie stehen Sie zu anderen Aspekten der Ausweitung des Wahlrechts, z. B. dem Wahlrecht für Ausländer?

 

Ich sehe im Moment keine Aktivitäten über das bestehende Niveau hinaus; aber auch hier wird man nach einer gewissen Mindestaufenthaltsdauer und aufgrund der Tatsache, dass Steuern und Beiträge gezahlt werden, den Menschen ein Wahlrecht nicht verweigern können.

 

In Ihrem fiktiven Brief an eine Enkelin aus dem Jahre 2042 zählen Sie einige „Errungenschaften“ der Zukunft auf. Wie wahrscheinlich sind für Sie diese Entwicklungen?

 

- „Bundespräsidentin“: das werden wir deutlich vor 2042 haben!

- „Renteneintrittsalter 75“: die längere Lebenserwartung kann nicht dazu führen, dass man die Zeit der Erwerbstätigkeit einfach belässt und dann ca. 55 Jahre seine Lebens nichts verdient, aber einen Lebensunterhalt braucht. Allerdings müssen hier differenzierte Lösungen für bestimmte Berufsgruppen gefunden werden

- „Kindergrundrechte in der Verfassung“: das kommt noch früher als das Wahlrecht von Geburt. Zu den Menschenrechten in der Verfassung wurden (im Art. 3 GG) auch besondere Rechte für Frauen formuliert. Dies wird man auch gegenüber Kindern noch folgen lassen.

- „Bedingungsloses Grundeinkommen“: wenn jetzt sogar der Vorstandvorsitzende von Siemens solche Forderungen erhebt, dann wird die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens - allerdings gepaart mit sinnvollen Tätigkeitsangeboten - nicht mehr von der Agenda zu verweisen sein.


Renat Schmidt: Lasst unsere Kinder wählen!   ***

München 2013 (Kösel-Verlag)

125 Seiten, 12,99 € (Paperback)

 

Renate Schmidt hat in ihrer langen politischen Laufbahn (von 1990 - 1994 war sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, von 2002 - 2005 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) schon manches Ziel verfolgt, das zunächst als utopisch oder unerreichbar abgestempelt wurde: doch der Anspruch auf einen Kindergartenplatz, die Abschaffung der Wehrpflicht oder das Elterngeld sind heute unwidersprochene Realität.

Eine andere politische Agenda, die sie seit etwa 15 Jahren proklamiert, ist das Wahlrecht von Geburt an. In ihrem 2013 erschienenen Buch „Lasst unsere Kinder wählen!“ (Kösel-Verlag, München) formuliert sie dazu „ein einseitiges parteiisches Plädoyer“. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der demographische Wandel und die fehlende Kinder-Lobby in einer sich entwickelnden „Rentner-Demokratie“.

Es begann mit mehreren Anläufen, Grundrechte für Kinder in die Verfassung aufzunehmen und einer Gesetzesinitiative aus dem Jahr 2006/7, die in der Einleitung forderte: „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen“.

Zweimal gab es fraktionsübergreifende Bundestags-Initiativen für ein Kinderwahlrecht (2004/5 und 2009), die trotz prominenter Befürworter im Sande verliefen. Die SPD-Politikerin beruft sich dabei auf Art. 38,2 GG und Art. 20 GG, in denen stets von „Volk“ die Rede ist. Nur im Wahlgesetz wurde die Einschränkung verankert.

Grundsätzlich gibt es für ein Kinderwahlrecht drei Spielarten:

- Kinder müssen sich in ein Wählerverzeichnis eintragen lassen, um dann an Wahlen teilnehmen zu können

- Familienwahlrecht: das Stimmrecht üben bis zu einem vorgegebenen Alter (14 - 16?) die Eltern aus

- Kombination aus den beiden Varianten

Die Kritiker des Kinderwahlrechts verweisen auf die nicht vorhandenen Wahlfähigkeit, auf das Prinzip „one person, one vote“, auf die geforderte Höchstpersönlichkeit der Wahl und auf die grundgesetzlich verlangte geheime Wahl.

Dagegen argumentiert Renate Schmidt mit dem Verweis darauf, dass auch Menschen im höheren Alter und mit sehr geringem Bildungsstand zur Wahl zugelassen sind, dass das Prinzip der Stellvertretung auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens juristisch verankert ist, dass die Höchstpersönlichkeit keinen Verfassungsrang besitzt und dass das Prinzip der geheimen Wahl mit der Möglichkeit der Briefwahl schon unterlaufen wird.

Detailprobleme eines Kinderwahlrechts (etwa die Frage, wie die Stimme eines Kleinkindes auf die Eltern verteilt wird) hält sie in jedem Fall für lösbar.

In einem Zwischenresumee lautet das dann wie folgt:

„Das Wahlrecht von Geburt an, solange es stellvertretend von den Eltern wahrgenommen wird, bis es Kinder selbst wahrnehmen, entspricht Artikel 20 des Grundgesetzes, denn Kinder sind von Geburt an Teil Staatsvolks und mit allen Grundrechten ausgestattet. Es entspricht nicht nur der in Artikel 38 GG geforderten Allgemeinheit der Wahl, sondern stellt sie überhaupt erst her.

Auch die dort festgelegten Grundsätze der unmittelbaren, freien. gleichen und geheimen Wahl werden in ihrem Sinngehalt nicht verletzt.

Verfassungsrechtlich steht der Einführung des Wahl­rechts von Geburt an nur das Wahlberechtigungsalter von 18 Jahren in Artikel 38 GG entgegen.

Diese Vorschrift kann mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert und auf null gesetzt werden.

Dies wiederum hätte Auswirkungen auf das mit ein­facher Mehrheit zu ändernde Bundeswahlgesetz

Das heißt also:

1. Das Wahlrecht von Geburt an ist in Einklang mit unserer Verfassung Es ist nicht nur verfassungsgemäß, sondern entspricht dem Geist des Grundgesetzes, denn:

2. Das Wahlrecht von Geburt an stellt die geforderte Allgemeinheit der Wahl überhaupt erst her.

3. Wahlrecht von Geburt an kann durch die Stellvertretung der Eltern umgesetzt werden.

4. Der Sinngehalt der Gleichheit und der Unmittelbar­keit der Wahl wird dadurch genauso wenig gefährdet wie die Geheimhaltung und die Höchstpersönlichkeit des Wahlaktes.

5. Alle eventuell auftretenden praktischen Probleme und Fragen sind lösbar.

Deshalb kann und muss das Wahlrecht von Geburt an rasch eingeführt werden!“ (S. 104 f.)

Schließlich kommt sie zu dem Schluss, dass von 0 - 12 Jahren eine Stellvertretung der Eltern stattfinden sollte, dass zwischen 12 und 16 die Jugendlichen sich aus eigener Initiative in ein Wählerverzeichnis aufnehmen lassen können und dass ab 16 eine generelle Wahlberechtigung ausgesprochen wird.

Das optimistische Fazit von Renate Schmidt lautet: „Das Wahlrecht von Geburt an macht unsere Gesellschaft solidarischer und unsere Demokratie aufgeklärter und lebendiger“ (S. 121)

 

http://www.renateschmidt.de/RS/Willkommen.html


Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin (Bericht und Argumentation, 2013) ****

 

In diesem sehr persönlich gehaltenen und gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Text erläutert der Historiker (Spezialgebiet: mittelalterliche Philosophie), warum er die kirchliche Lehre des Christentums nicht teilen kann. In neun Kapiteln setzt er sich mit den Dogmen und Theorien, die als Basis des christlichen Glaubens zu bezeichnen sind, auseinander. Dabei befasst er sich mit dem Wahrhaftigkeitsgehalt der Bibel, mit den Wundern Jesu, mit der Jungfrauengeburt, mit der Göttlichkeit Jesu, mit der Gottesvorstellung, mit den Theorien der Erlösung von den Sünden, mit der Gültigkeit und Kohärenz der zehn Gebote und mit der Unsterblichkeit der Seele. in all diesen Punkten findet er anhand der Methode der historisch-kritischen Textanalyse keine schlüssige Beweiskraft und kommt dabei zu dem Schluss, den er im Titel formuliert hat. Das Buch ist eine Einladung für Christen, Atheisten und Agnostiker, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Fast erscheint es jedoch unmöglich nach der Lektüre dieser Schrift, einen "Kinderglauben" zu behalten. Für viele "Christen" bleibt ohnehin nur noch als Selbstlegitimation die traditionelle Nähe zur Institution und ihrem Angebot einer Gemeinschaft, der vernunftgeprägte Humanismus (den man aber auch ohne das Leitbild Christus praktizieren kann) oder jener fragwürdige Ausweg ins "Credo quia absurdum". Für Kurt Flasch gilt das heitere Fazit: "Mein Leben ist nicht sinnlos. Ich habe nichts weggeworfen außer Formeln."


Arno Gruen: Wider den Terrorismus (Essay, 2015) ***

 

Arno Gruen, mit 92 Jahren sicher der Serenissimus der deutschsprachigen Psychoanalyse, reiht sich in die Gilde der selbsternannten Terrorismus-Experten ein. Seine Studie, die - entgegen dem Titel - keine Kampfschrift sondern eher ein Denkschrift ist - verknappt die Gedanken seines 2002 erschienenen Buches "Der Kampf um die Demokratie. Der Extremismus, die Gewalt und der Terror" auf etwa 88 Seiten. Damals unter dem Eindruck des 9.11-Anschlags verfasst, richtet sich für Gruen der Focus heute vor allem auf den IS-Terrorismus (und auf die beiden Terroran­schläge in Frankreich 2015). Die grundsätzliche Wurzel für Gewalt  - und damit für den heute weltbedrohenden Terrorismus - sieht der Schweizer Kulturkritiker in der profitorientierten Wettbe­werbsge­sellschaft (= Kapitalismus) und in den familialen Strukturen des Autoritarismus. Nur merkwür­dig, dass die IS-Terroristen, die sich nach Gruen vor der unbewusst gefürchteten allmächtigen Mutter retten wollen, für ein extrem autoritäres System, nämlich die islamistische Theokratie kämpfen. Ein antikapitalistischer Ansatz ist in deren Glaubenswahn schon gar nicht zu erken­nen, die Ziele ihrer Gewalttaten sind ja mittlerweile nur noch sogenannte Un- oder Falsch-Gläubige. Darüber hinaus entflieht die zunehmende Zahl der weiblichen Scharia-Kämpfer be­stimmt mehr der zu Hause erlebten Patriarchie. Wenn Arno Gruen seine Analyse auf das Feld der Erziehungspsychologie herunterbricht und verlangt, man müsse dafür sorgen, "dass unsere Kinder so aufwachsen, dass ein inneres Opfersein gar nicht erst entsteht", dass die Angst vor den Autoritätspersonen, vor den eigenen Gefühlen, vor dem Selbstsein und vor dem Ungehor­sam verschwindet, so bewegt er sich in der Argumentation seiner vorherigen Schrift "Wider den Gehorsam". Mit pauschalen Forderungen nach dem Erkennen der wahren (=?) Bedürfnisse von Menschen und nach dem Ermöglichen einer wahren (=?) Kindheit verlässt der Autor aber zeitweise das Feld der aufklärerischen Analyse. Natürlich wird niemand dem wohlgemeinten Titel dieser Schrift wider-sprechen, da aber die Ursachen doch sehr allgemein abgehandelt wer­den, ist die Nützlichkeit der Lektüre eingeschränkt.


Paul Nolte: Demokratie. Die 101 wichtigsten Fragen ***

 

In der Taschenbuchreihe des C. H. Beck-Verlags mit dem Rahmentitel „Die 101 wichtigsten Fragen“ ist nun nach den Stichworten „Bibel“, „Karl der Große“ oder „Rassismus“ (nur eine Auswahl!) auch das Bändchen „Demokratie“ erschie­nen. Der Autor Paul Nolte (Professor für Neuere Ge­schichte an der FU Berlin) konnte dazu seine vor drei Jahren im sel­ben Verlag erschienene Mo­nographie „Was ist Demokra­tie?“ in das Fragen-Format umschreiben. Nun muss sich eine sol­che Edition die Frage gefallen lassen, warum man das Thema „Demokratie“ ausgerechnet mit 101 Fragen er­schöpfend abhandeln kann - 99 hätten es vielleicht auch getan - oder wären 111 zielführender gewesen?

Nolte prä­sentiert jedenfalls eine recht bunt gemischte Serie von reinen Wissensfragen („Was ist Gewal­tenteilung?“), zeitgeschichtlichen Fragen („Haben die Alliierten 1945 die Demokratie nach Deutschland gebracht?“), problemorientierten Fragen („Ist Staats­bürgerschaft ausgrenzend und nationalistisch?) und spekulativen Fragen („Wird China irgend­wann demokratisch werden?“). Die im Kern unsystematische Folge erlaubt es dem Leser, belie­big zwischen den Fragen zu springen und sich die vermeintlich interessanten Kapitel herauszu­suchen. Noltes Antworten umfassen in der Regel etwa eineinhalb Seiten, sind von großer Sach­lichkeit und Abwägung ge­prägt. Es gibt keine pointierten oder provokativen Thesen, des Öfte­ren findet man mehrheits­fähige allgemeine Merksätze wie „Die Geschichte der Demokratie, aber auch das Engagement in ihr ist Sisyphusarbeit.“ (S. 56) oder „Trotz der Freiheit nicht zu wählen, bleibt es in eine wei­teren, appellativen und moralischen Sinne richtig zu sagen, wählen sei Bürgerpflicht.“ (S. 42). Erfreulich ist die große Aktualität der Gedanken, die sich z. B. auch in Fragen wie „Sind Islam und Demokratie unverträglich?“ niederschlägt. Noltes Fazit lautet: „Auf welche Strömung des Islam man auch schaut - mit einer demokratischen Regierungsform scheint es nur geringe Schnittmengen zu geben“ (S. 129). Im letzten Kapitel stellt Nolte sich die Frage nach der Zu­kunft der Demokratie und nennt dabei zwei sicherlich zutreffende Trends: zum einen die Ver­stärkung der partizipatorischen Demokratie, zum anderen der Ein­fluss der Digitalisierung, also die Demokratie „Version 2.0“. Der Autor orientiert sich nur punktuell an Er­kenntnisse der mo­dernen Demokratietheorie, verzichtet gänzlich auf Fußnoten, schließt sein Handbuch aber mit einer Reihe von nützlichen Lektüre-Anregungen zum Thema.

Es bleibt die (102.?) Frage, für wen dieses Handbuch eigentlich empfehlenswert ist. Am ehesten dürfte das Format Oberstufenschüler des Gymnasiums ansprechen, die über ihren rudimentä­ren Politik-Unterricht hinaus noch weitere Denkanstöße bekommen wollen. Für Lehramtsstu­denten hat ja der Landesverband Bayern schon ein Modul „Demokratieerziehung“ an der Uni­versität gefordert, dazu wäre Noltes knappe Darlegung eine sinnvolle Begleitlektüre. Schließlich könnte jeder bayerische Seminarlehrer für Grundfragen der staatsbürgerlichen Bildung aus die­sem Taschenbuch wertvolle Anregungen für seine ca. 40 Fachsitzungen in zwei Jahren finden - mit zwei bis drei Fragen pro Sitzung wäre sogar das gesamte Spektrum abgearbeitet!


Günther Jauch - live **


Der politisch interessierte Berlin-Tourist hat sich entschlossen, einmal hinter die Kulissen des Geflechts von Politik und Medien schauen zu wollen. Er hat rechtzeitig bei der Firma TV Ticket Service für den Preis von 13,50 € eine Eintrittskarte zum allsonntäglichen Polit-Talk mit Günther Jauch erworben - an die weitreichenden Folgen jedoch nicht gedacht.

Drei Tage vorher muss er seine Teilnahme bestätigen, sonst geht der bezahlte Sitzplatz im Gasometer verloren. Am fälligen Sonntag muss er drei Stunden vor Sendungsbeginn in der Schöneberger Industriewüste erscheinen, sich einer hochnotpeinlichen Körpervisitation unterziehen, dem Recht auf das eigenen Bild entsagen, sich anschließend in überhitzten Räumlichkeiten in der Kunst des Wartens üben und dabei den erwartungsfrohen Gesprächen der Mitbesucher über das Thema des Abends ("spannend") und die geladenen Talk-Gäste ("Schäuble kommt auch!") zuhören. Leicht verschwitzt wird er endlich über eine Flughafen-ähnliche Gangway in das architektonisch protzige Großraum-Studio geleitet und platziert. Ein Adlatus des großen Talk-Meisters begrüßt flapsig das Publikum und erklärt, was man darf (klatschen) und was nicht (winken, austreten). Sodann werden die Talk-Gäste zu ihren Sesseln geleitet, mikrofonisch abgeprüft und noch kurze Zeit ihren Gedanken überlassen. Sie könnten sich z. B. noch einmal einprägen, dass sie in den folgenden 60 Minuten etwa siebenmal zu Wort kommen werden und dabei auf schnelles Reden sowie irgendwelche längeren Zusammenhänge ("lassen Sie mich diesen Punkt noch machen!") achten sollten. Schließlich betritt Herr Jauch locker die ARD-Arena und eruiert in einem Small Talk, wer aus dem Publikum die weiteste Anreise hatte.

Ach ja, nun wird auch noch eine Stunde über das Thema des Tages geredet, bevor der gutwillige Galeriebesucher - ohne es zu wissen - weinend wieder in die Berliner Nacht entlassen ist. Am nächsten Tag hat er bis auf eine lustige Episode (ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat bei der EU-Parlamentswahl zweimal seine Stimme abgegeben) alles "Inhaltliche" vergessen.