SCHAU.BÜHNE


***** hervorragend   **** sehenswert   *** Licht und Schatten

** nur bedingtes Vergnügen    * überflüssig


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Caren Jeß: Ave Joost ***

Regie: Branko Janack

Premiere: 14.03.2024

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

 

1w + 3m im Alter von 14 bis 44: so lautet die Formel für Caren Jeß’ interaktionsreiches Theaterstück, das als Auftragsarbeit für das Staatstheater Nürnberg geschrieben wurde und nun dort seine Uraufführung in den Kammerspielen fand. Die vier Hauptpersonen („Ordinary People“ steht auf einem Graffiti-Trainingsanzug) repräsentieren einen Ausschnitt aus der postmodernen Krisenwelt der Gegenwart, stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und haben eines gemeinsam: einen tragischen Knick in ihrer Sozialisation und ein Problem mit der aktuellen Erwerbsgesellschaft.

Der titelgebende und lateinisch gegrüßte Joost (Justus Pfankuch) ist als Ex-Hausmeister eines Gymnasiums gezeichnet von Arbeitslosigkeit und Drogen-Missbrauch, der eigentlich taffe Geschäftsmann Marcus (Amadeus Köhli) - die Autorin bezeichnet ihn als „Kneifzange unter den Pinzetten“ - kann den frühen Tod seiner Tochter nicht verwinden, sein erwachsener Sohn Bastl (Joshua Kliefert) wäre gerne Handball-Profi geworden, verkümmert aber im öffentlichen Dienst. Die drei Männer treffen sich regelmäßig zu ritualisierten (natürlich illegalen) Schießübungen in einer stillgelegten oberbayerischen Molkerei; in der Inszenierung von Branko Janack wird daraus ein verkehrter Tell-Schuss, ein wummerndes Apfel-an-die-Wand-Knallen, ein symbolischer Aggressions-Abbau, der möglicherweise die politisch korrekte Nürnberger Lebensmittel-Polizei auf den Plan rufen könnte.

In diese Welt der weißen Männer-Freundschaft schleicht sich mit weißen Plateau-Sohlen plötzlich die 14jährige Schülerin Malin (Pola Jane O’Mara), die an sogenannten lost places Stories für ihren YouTube-Kanal filmen will. Sie erzählt vor der Web-Kamera fantastische Geschichten von Amalie und Amalia, die leider bislang nur von 27 Followern angeschaut werden. Joost wird sich bald in den Kreis ihrer Bewunderer einreihen. Ihre virtuelle Fantasy-Traumwelt ist aber ein harter Kontrast zu Joosts Industrial-Techno-Sound und dem bierseligen Mia-san-mia-Dröhnland von Vater und Sohn, die fordern, dass Malin (= die Schlaue?) schleunigst wieder aus der Schusslinie verschwindet.

Wiederkehrende Höhepunkte des Stückes sind die Auftritte der kommentierenden Erzählerin Annette Büschelberger, die sich mit Jagdgewehr und Gummistiefeln an den handelnden Personen reibt und ihre Kurzbiografien schön ironisch mitteilt. Die resopal-glatte Molkereiwand hat eher Hafermilch-Ästhetik und ist so gar keine Nachbildung einer abgewrackten Bergbauern-Industrie-Ruine. Sie dient aber trefflich als Projektionsfläche der Video-Sequenzen, die von der Hinterbühne gesendet werden (für Bühne und Video ist Maryvonne Riedelsheimer verantwortlich).

Man erkennt, dass die Autorin keinesfalls in die Tradition des sozialen Dramas von Franz Xaver Kroetz eintauchen wollte, stattdessen erprobt sie eine bildreiche, oftmals verrätselte Assoziations-Dramatik der Fake-Realität, verstrickt sich aber zunehmend in sprachlich verworrenes Flechtwerk mit inhaltlichen Längen. Die Suche nach Glaube, Liebe und Hoffnung rekurriert ein bisschen auf das kritische Volkstheater eines Ödön von Horváth, die Suche nach einem Quantum Trost für Joost endet in dem absurden Bild von umgehängtem Toastbrot und Teebeutel. Am Ende bricht wieder die unschöne Realität in die Szene; mit vier gefährlichen Benzinkanistern und einem echten Gewehrschuss in der Dunkelheit. Kann aus Joost noch etwas werden? Eher nicht!

 

https://www.die-deutsche-buehne.de/kritiken/nuernberg-ave-joost-janack/

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/ave-joost/14-03-2024/1930


Foto: Nik Schölzel
Foto: Nik Schölzel

Dietrich Garstka: Das schweigende Klassenzimmer ****

Regie: Anna Stiepani

Bearbeitung und Dramaturgie: Barbara Bily

mit: Nils David Bannert, Nils van der Horst, Daria Lik, Isabella Szendzielorz, Eva-Lina Wenners, Georg Zeies

Premiere: 22.2.2024

Mainfranken Theater Würzburg (Probebühne)

Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten, keine Pause

 

Am Anfang war das Ereignis: eine Abiturklasse mit fünf Mädchen und 15 Jungen in der ehemaligen DDR, genauer: in der 5000-Einwohner-Stadt Storkow (Mark Brandenburg), entschließt sich Ende Oktober 1956 während des Geschichtsunterrichts zweimal zu demonstrativen Schweigeminuten für den Befreiungskampf der Ungarn gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Dietrich Garstka (verstorben 2018) war einer dieser Schüler (und bestimmt ein Mit-Initiator der provokanten Aktion), er hat die ganze Geschichte mit ihren Folgen dokumentiert und 2007 veröffentlicht. Sein quellenreiches Sachbuch trägt den Untertitel „Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg“.

2017 stieß Regisseur Lars Kraume - bekannt durch zahlreiche „Tatort“-Regiearbeiten und durch die Produktion „Der Staat gegen Fritz Bauer“ - auf den zeitgeschichtlich interessanten Stoff und machte daraus einen Film, der ein Jahr später bei der Berlinale seine Weltpremiere hatte.

Längere Zeit hatte die Dramaturgin Barbara Bily das Projekt schon in der Schublade, nun kommen die Geschehnisse auch noch auf die Bühne - in einer Uraufführung des Mainfranken Theaters Würzburg, unterstützt vom Institut für Deutschland-Forschung der Ruhr-Universität Bochum und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Bily und Regisseurin Anna Stiepani distanzieren sich allerdings deutlich von der stark ins Fiktionale driftenden Verfilmung und orientieren sich eher an den Traditionen des deutschsprachigen Dokumentartheaters, geprägt von Peter Weiss und Heinar Kipphardt. Das hat zur Folge, dass die Inszenierung an einigen Stellen etwas ins Genre Schulfunk und Bildungsfernsehen abrutscht, dass die Akteure viel mit Erzählerberichten und dem Verlesen von Dokumenten beschäftigt sind. Doch dann überwiegen die Momente der persönlichen Betroffenheit und der Nachdenklichkeit, etwa wenn Georg Zeies als Geschichtslehrer ganze fünf Minuten mit dem schweigenden Publikum konfrontiert ist oder Nils van der Horst als Schüler Dietrich verkündet „Ich geh jetzt weg“.

Foto: Nik Schölzel
Foto: Nik Schölzel

Auf der Probebühne herrscht zunächst sterile Labor-Atmosphäre, die aber bald durch nicht ganz zeittypische Overhead-Projektoren, durch rote Plastikstühle und ein antiquarisches Radiogerät, durch eine Wandkarte und sogar durch eine Tischtennisplatte zum Rundlauf aufgelockert wird (Bühne, Kostüme und Licht von Anna Wörl). Aus dem Lautsprecher kommen nicht nur RIAS-Reportagen mit Originalstimmen von Willy Brandt und Otto Suhr, sondern auch Traumwelt-Schlager der 1950er Jahre wie Freddys „Heimweh“ und „Que sera“ von Doris Day. Die schreibmaschinen-geschriebenen Stasi-Protokolle werden am Ende ganz radikal von vier Laubbläsern durcheinandergewirbelt. Das sechsköpfige Ensemble agiert flexibel mit wechselnden Rollenzuordnungen, immer wieder ordnen sie sich zum Gruppenfoto vor dem Originalfoto der geflüchteten Abiturienten.

Die Dramatik jenes Konflikts war nicht zwangsläufig. Wenn die SED-Regierung in Person des Volksbildungsministers Fritz Lange den Fall nicht zur systemrelevanten Chefsache gemacht hätte, wäre die mutige Aktion womöglich vom damaligen Schuldirektor als unüberlegter Lausbubenstreich abgetan und abgehakt worden. Lange wollte sozialistische Linientreue und Denunziation der Rädelsführer, bekam aber Klassen-Solidarität und entschloss sich ein Exempel zu statuieren: alle Schülerinnen und Schüler sollten vom Abitur ausgeschlossen werden. Das Ergebnis: ein Großteil der Klasse nutzte die damals noch vorhandene offene Grenze und floh nach West-Berlin.

Im hessischen Bensheim an der Bergstraße machten sie leicht verspätet ihr Abitur, BRD-Außenminister von Brentano kam zur Abifeier, in der BILD-Zeitung wurden sie als Helden der Freiheit gefeiert. Zum Glück transportiert die Aufführung jenes Legenden-Gemälde aus der Schwarz-Weiß-Tube nicht unkritisch in die Gegenwart, vielmehr erlebt man ein ziemlich unterhaltsames Lehrstück über Solidarität und Widerstand in einer Diktatur und bekommt eine ganz neue Definition des Begriffs „revolutionäre Klasse“ an den Kopf geworfen.

Dem Stück ist eifriger Besuch durch heutige Schulklassen zu wünschen. Die knapp 80 Minuten (= eine Doppelstunde im Schulfach politische Bildung und Zeitgeschichte) sind eine treffliche Alternative zum lehrerzentrierten Frontalunterricht. Vielleicht können dann in der Nachbesprechung noch ein paar aktuelle Fragen diskutiert werden: Wo liegen die Unterschiede zu den von Greta Thunberg inszenierten Schulstreiks für das Klima, die zur Bewegung „Fridays for Future“ führten? Oder noch direkter: Wird es derzeit an Russlands Schulen auch Schweigeminuten für Alexej Nawalny geben?

 

https://www.mainfrankentheater.de/spielplan/spielplan/2024-02/schauspiel/das-schweigende-klassenzimmer/1860/


Foto: Andreas Etter
Foto: Andreas Etter

Hannah und ihre Schwestern ***

von Woody Allen

Regie: Christian Brey

Premiere am 16.12.2023

Staatstheater Mainz (Kleines Haus)

 

In die Top 5 der besten Woody-Allen-Filme gehört neben „Der Stadtneurotiker“, „Match Point“, „Manhattan“ und „Irrational Man“ für viele auch sein 1986er-Werk „Hannah und ihre Schwestern“. Daraus hat Jürgen Fischer schon in der Mitte der 90er Jahre eine deutsche Bühnenfassung mit 30 Szenen gestrickt, die nun im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz zu sehen ist.

Als Regisseur fungiert Christian Brey, ein erfahrener Woodyologe und gleichzeitig ein anerkannter Experte für Leichtes und Komödiantisches. Bei dieser Produktion erliegt er aber über weite Strecken einem Missverständnis: der skeptischen, ja fast ein bisschen zynischen Sicht Woody Allens auf die conditio humana und seinem notorischen Widerstand gegen die political correctness wird man nicht gerecht, wenn man das Stück als überdrehte, schrille Komödie im Rahmen einer 80er-Jahre-Retro-Disco und Kostümparty abfeiert. Eher würde man sich Momente von Beckettscher Absurdität und Tschechowscher Resignation wünschen.

„Hannah und ihre Schwestern“ war einer der ersten Filme, in dem sich Woody Allen nur eine Nebenrolle zuschrieb und stattdessen drei Frauen in den Mittelpunkt stellte. Hannah (Kruna Savić) ist der prinzipielle Gutmensch, „der so viel gibt und so wenig dafür verlangt“, dessen Hilfsangebote aber oft als fürsorgliche Belagerung verstanden werden. Dagegen überwiegen bei der Schwester Holly (Maike Elena Schmidt) die Minderwertigkeitskomplexe: von Kokain-Episoden gezeichnet bleibt sie als Schauspielerin erfolglos, ist als Catering-Unternehmerin unzufrieden und bei Männern meist nur zweite Wahl. Schwester Lee (Lisa Eder) hat sich zeitweise in die kulturelle Erziehungs-Diktatur des Malers Frederick (Klaus Köhler) geflüchtet, kommt aber mit seiner elitären Misanthropie immer weniger zurecht.

Um dieses an Tschechows „Drei Schwestern“ konstruierte Trio (man beachte den Namen „Stanislawski“ für Hollys Projekt eines Catering-Service!) schwirren wiederum drei Männer: neben jenem Frederick noch Hannahs Ehemann Elliott (Vincent Doddema), der sich triebgesteuert an Lee ranmacht, dann aber reumütig zur Ehefrau zurückkehrt, und Hannahs Ex-Mann Mickey (Henner Momann als Woody-Allen-Wiedergänger mit passendem braunen Cord-Anzug), der fürs Fernsehen Comedy-Shows produziert, beim Kinderkriegen und bei Arztbesuchen aber nichts zu lachen hat und zunehmend in eine grundsätzliche Lebenskrise hineinrutscht.

So ist mit dieser komplizierten Familien-Aufstellung der Kosmos der frühen Allen-Welt in allen Facetten aufgeboten: es geht um schwierige heterosexuelle Beziehungen, um religiöse Sinnsuche und um die Alltagsprobleme der mehr oder weniger gebildeten New Yorker Oberschicht - von A wie Alkohol über H wie Hypochondrie oder Hare Krishna bis T wie Thanksgiving-Rituale.

Die vielfältigen Bezüge einiger Filmpersonen zur Bühne und Woody Allens Ironie-gesättigte Dialog-Akrobatik machen das Drehbuch (für das es seinerzeit einen voll berechtigten Oscar gab) tatsächlich theatertauglich. Norma und Evan, die Eltern der drei Schwestern (Iris Atzwanger und Martin Herrmann), die an dem Abend ein paar berührende Gesangs-Einlagen hinlegen, waren beide bekannte Schauspieler, Hannah selber hat neben ihrer Rolle als Ehe-, Hausfrau und Mutter immer wieder punktuelle Theater-Einsätze (als „Nora“ oder als „Desdemona“ - wie passend!). Holly schafft nach mehreren vergeigten Castings am Broadway immerhin ein TV-Drama-Script, das Mickey als „großartig“ und „einfach toll“ einstuft.

Ein auf den ersten Blick etwas biederes Bühnenbild (von Anette Hachmann und Elisa Limberg), über dem drei Styropor-Wolken schweben, schafft es immerhin die zahlreichen Schauplätze des Originals temporeich in Szene zu setzen: eine Drehtür rotiert, zwei Türen und ein Fenster öffnen sich in den richtigen Momenten und transportieren so das Geschehen von den Dinner-Partys in der Wohnung von Hannah und Elliott, zu Fredericks Loft, zu einem Fernsehstudio, in die Sprechzimmer von Ärzten und Psychotherapeuten, in eine Loge der Metropolitan Opera, in ein Hotelzimmer, einen Hard-Rock-Club und in den legendären New Yorker Jazz-Club Carlyle.

Der unterlegte Soundtrack der 80er Jahre, mit dem Woody Allen sicher nicht viel anfangen könnte, illustriert einen Nebenaspekt des Stückes: „Love Is A Battlefield“. Die eingeblendeten Video-Sequenzen (Christoph Schödel) verschwimmen auf den Konturen der Kulissen. Stimmiger erscheinen da schon die eingebauten Choreographien eines Jogging-Rundlaufs im Central Park, einer Hare-Krishna-Tanzeinlage und einer Verliebtheits-Pantomime zu dem Song „Only You“.

Am Ende finden sich die alten und neuen Paare wieder zur Truthahn-Party, es gibt es lebhaften Beifall vom Publikum. Doch man weiß0 nicht so recht, ob man nun bei "Sex and the City" oder bei "Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht" war.

 

https://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/schauspiel-23-24/hannah-und-ihre-schwestern


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Dieses Stück geht schief ***

von Jonathan Sayers, Henry Shields und Henry Lewis

Regie: Christian Brey

Premiere am 28.10.2023 (besuchte Vorstellung: am 26.11.2023)

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Es ist der nackte Wahnsinn, obwohl skurril-englisch angezogen: am Nürnberger Staatstheater präsentiert eine sehr ambitionierte, sehr bemühte Laienspielgruppe die Aufführung ihres Krimis „Mord auf Schloss Haversham“. Der heimliche Chef dieser Produktion scheint aber Edward Aloysius Murphy zu sein, der einst das nach ihm benamte Gesetz verkündete: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen!

Und so beginnt der Abend schon mit der Einladung eines Zuschauers auf die Bühne, der bei der Montage eines Wandsimses helfen soll, und mit einer Suche nach dem Hund Winston, der sich möglicherweise in den Stuhlreihen des ausverkauften Schauspielhauses versteckt hat. Tontechniker Trevor (Pius Maria Cüppers) erwähnt noch, dass er seine Duran-Duran-CDs irgendwo verlegt habe. Es folgt die euphorische Ansage des Theaterdirektors (Luca Rosendahl), der verkündet, man habe endlich ein Stück gefunden, das genau zum Personal der Bühnen-Kompanie passe.

Nach diesen Intro-Gags geht es zur Sache - und wie! In den folgenden zwei Stunden wird ein traditioneller englischer Krimi mit etwa drei (vermeintlichen) Leichen und den unvermeidlichen Zutaten vom Adel über den Butler und den Scotland-Yard-Inspektor bis zum Gärtner abgespult. Viel wichtiger ist aber die Pannen-Serie und das Slapstick-Feuerwerk, das die Aufführung systematisch ins Chaos abdriften lässt. Bilder fallen von der Wand, Sideboards sind fehlerhaft montiert, Accessoires sind nicht am richtigen Platz, SchauspielerInnen fallen in Ohnmacht, statt Cognac wird Spiritus serviert und ein Wohnungs-Aufzug fängt zu qualmen an. Am Ende gerät das ganze Bühnenbild (Annette Hachmann) in eine dramatische Schieflage und einige Kulissen knallen zu Boden. Das hat allerdings nicht mehr den feinen Humor von Loriot-Sketchen sondern ist schon eher eine moderne Form von Brachial-Komik, die noch durch das penetrante Geschrei der Akteure verstärkt wird.

Die Schauspieler beweisen allerdings hohe physische Präsenz, sie müssen mit absurden Verrenkungen und artistischen Fensterstürzen die Fehlerketten ausgleichen. Schöne Running Gags kommen vom Butler Perkins (Thorsten Danner), der wie sein Arbeitskollege James („Dinner For One“) durch die Szene stolpert und einmal eine fünfminütige Textschleife produziert. Regisseur Christian Brey (in Nürnberg mittlerweile der Mann fürs Grob-Komödiantische) hat dem Stück ein präzises Timing verpasst: es klappert immer in dem Moment, wenn etwas nicht klappt!

Dass man sich mit dieser Komödie vom englischen Erfolgstrio Sayer, Shields & Lewis manchen Produktionen der nahegelegenen Fürther Comödie nähert, scheint niemanden zu stören: das Publikum lacht enthusiastisch und feiert am Ende das Ensemble. Alle Zutaten für einen Quotenrenner sind vorhanden!

 

https://fundus.staatstheater-nuernberg.de/detail/im-detail-dieses-stueck-geht-schief


Foto: Konrad Fersterer / Staatstheater Nürnberg
Foto: Konrad Fersterer / Staatstheater Nürnberg

ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM *****

 von Werner Schwab

Regie: Rieke Süßkow

Premiere am 6.10.2023

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Der eine oder andere kennt vielleicht aus eigenem Erleben jene gastronomischen Absturz-Zentren, jene „Fundbüros“, in denen sich - nach einem Zitat von André Heller - die Verlorenen selber abgeben. So eine Kneipe ist der Schauplatz von Werner Schwabs Sozialdrama mit verrätseltem Titel, das 1991 in Wien uraufgeführt und nun zum Saison-Auftakt des Nürnberger Staatstheaters von Rieke Süßkow höchst originell in Szene gesetzt wurde.

Sie gehört zu den aktuellen Shootingstars im Regiefach und wurde vor kurzem zur Nachwuchsregisseurin des Jahres 2022 gekürt. Auch ihre Österreich-Prüfung hat sie mit Bravour absolviert: Am Wiener Burgtheater war sie verantwortlich für die Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“ und wurde mit dieser Produktion zu den Berliner Theatertagen 2023 eingeladen.

Der Autor Werner Schwab (1958 - 1994) - nach Peter Handke und Wolfgang Bauer das letzte Glied einer literarischen Dreierkette des Vereins Sturm (und Drang) Graz - stellt wohl jede Inszenierung vor grundsätzliche Probleme. Im Gegensatz zum frühen Handke ist sein Anliegen nicht die Beschimpfung des Theaterpublikums, er wirft den zivilisierten Zuschauern unkommentiert „Fäkalien“ aus einem unbekannten (oder verdrängten) Alltag vor die Füße.

Regisseurin Süßkow wagt in Nürnberg eine mutige, aber vollkommen erfolgreiche (nicht nur kosmetische) Operation am Text von Werner Schwab. Sie stellt die neun Personen in Reihe auf wie in einer Oktoberfest-Kirmesbude der Extremitäten und lässt sie nach einer strengen Choreografie als präzise Marionetten eines Figurentheaters agieren. Die Schauspieler:innen stecken in fleischfarbenen Ganzkörpermasken mit vorgeschnallten Plastik-Körperteilen - zwangsläufig auch primären Geschlechtsorganen - (Kostüme: Sabrina Bosshard) und bewegen sich mechanisch zu einer stimmigen Geräuschkulisse (Sounds: Philipp C. Mayer). Man hört Schmatzen, Knirschen, Schläge, dazu die Sounds eines Flipper-Automaten und natürlich Schlagerfetzen aus der Musikbox. Gefasst wird die Szenerie von einem beweglichen, breit-wulstigen Bilderrahmen, der unterschiedliche Bereiche der Bühne freigibt (Mirjam Stängl). Da die Interaktion der sieben Kneipen-Stammgäste immer wieder an Aggression und Sexualität orientiert ist, kommt es zu vereinzelten Schlagabtäuschen, die aber vom verdeckten Trampolin aufgefangen werden: Das Prekariat als Stehaufmännchen und -frauchen!

In diesem stilisierten Ambiente erhalten die Monologe und Dialoge eine neue Qualität. Der oft sinnfreie Trash-Talk, das alkoholisierte Philosophieren und die gegenseitigen Beleidigungen von Jürgen, Schweindi, Hasi, Karli, Herta, Fotzi und der Wirtin transportieren jene typische Schwab-Sprache, vom Autor selbst als „unreiner Dreck“ bezeichnet, der Klarheit besorgt, aber keine Einsicht. Insgesamt erinnert das Schwab-isch an die Sprach-Kritik eines Ödön von Horvath, der in vielen seiner Stücke den entleerten Bildungsjargon, die Spießer-Mentalität und die Dummheit des Kleinbürgertums karikierte.

Foto: Konrad Fersterer /Staatstheater Nürnberg
Foto: Konrad Fersterer /Staatstheater Nürnberg

Doch es geht dem Stück nicht nur um einen Blick auf kaputte Existenzen, als Gegenspieler tritt noch das schöne Paar auf: „die da oben“ sind attraktiv, geschmackvoll gestylt, auf sich selbst bezogen. Als Karli die unbekannten Wirtshaus-Nachbarn auf einen Obstler einlädt, löst die Ablehnung Aggressionen aus („niederträchtige Menschen“, „Kriegsverbrecher“). Es kommt zum Eklat mit Ohrfeigen, Zu-Boden-Reißen und ansatzweiser Vergewaltigung. Diesen kannibalistischen Rückfall aus der Zivilisation zeigt die Inszenierung verfremdet als zeitlupenhaftes Abendmahl untermalt von Countertenor-Gesängen (Matthias Luckey).

Schließlich setzt die „Handlung“ mit wiederholter Einleitung zu einem neuen Schluss an: das wiederbelebte Paar amüsiert sich über die Stammgäste als primitive, einfache Menschen, sieht das Ganze als eine Art Theater, als eine Darstellung des waschechten Volkes, zu dem man ein berührendes Drehbuch schreiben könnte. So wird das Stück zu einer Studie über Voyeurismus, die auch die Zuschauer im Theater quasi als Besucher eines Gesellschafts-Zoos miteinbezieht: „Schauen wir uns mal dieses Prekariat genauer an!“ Ein ähnlicher Effekt wird erzielt, wenn man den Roman „Der goldene Handschuh“ von Heinz Strunk liest und auf diesem Weg das Personal der legendären Hamburger Kneipe kennenlernt.

Insgesamt feiern die Zuschauer ein punktgenaues Gesamtkunstwerk mit Bildern, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine Einzel-Bewertung des Ensembles (in dem sich einige Neuzugänge für das Nürnberger Staatstheater verbargen) verbietet sich, es genügt zu sagen: sie haben als Kollektiv einwandfrei funktioniert. Und die Warnung des Staatstheaters („geeignet ab 18 Jahren“) ist eigentlich überflüssig: die Auseinandersetzung mit solch einer stilisierten Vulgarität kann einem Jugendlichen nicht schaden.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/uebergewicht-unwichtig-unform/14-10-2023/1930


Foto: Marie Liebig
Foto: Marie Liebig

Nach dem Essen ****

von Simone Kucher

Regie: Gustav Rueb

Theater Regensburg (Studiobühne Haidplatz)

Premiere: 30.09.2023

 

Missionarischer Veganismus vs. Fleischkonsum. Aktionen von Fridays for future und den Klimaklebern der „letzten“ Generation vs. Wachstumsglauben der Wirtschaftswunder-Generation: Diese Debatten beherrschen seit einigen Jahren den gesellschaftliche Diskurs - und sind eine perfekte Steilvorlage für den Hörspiel- und Bühnentext von Simone Kucher, der nun am zum Spielzeitauftakt am Theater Regensburg uraufgeführt wurde.

„Nach dem Essen sollst du ruh‘n oder 1000 Schritte tun“ sagte schon ein lateinisches Sprichwort. Doch für den 14jährigen Jonas, der in Regensburg von dem mit gleichem Vornamen ausgestatteten Jonas Julian Niemann gespielt wird, hat die Präposition „nach“ eine ganz andere Bedeutung. Er tritt nämlich nach einem Angelerlebnis mit einem Fisch an der Ostsee in einen Hunger- und Kommunikationsstreik und wird so zu einem provokativen Fragezeichen für seine ganze Familie. Sein Schweigen wirkt auf die anderen (und auch auf das Publikum) wie ein reflexiver Rück-Spiegel: Was sollen wir machen?

Simone Kucher hat diesen Drei-Generationen-Konflikt zunächst 2020 als Hörspiel für den WDR geschrieben und nun für die Bühnen-Uraufführung am Theater Regensburg komplett überarbeitet. Wie reagiert die Schwester, wie reagieren die Eltern und die Großmutter auf die trotzige Verweigerung? Während der Vater (Michael Haake) den Sohn als beleidigte Leberwurst einordnet und von eigenen rebellischen Jugenderlebnissen in der Anti-Atom-Bewegung fabuliert, flüchtet die Mutter (Kathrin Berg) eher in eine „Maria-ihm-schmeckts-nicht “-Ausrede. Die gebeugte Großmutter (Max Roenneberg) versucht es mit Fütterung von Knödeln und mit dem Verweis auf eigene existentielle Erlebnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Schwester Billie (Anna Kiesewetter) lanciert dagegen den Bruder zum Instagram-Star und produziert launige TikTok-Videos. Sie löst damit eine World-Wide-Follower-Bewegung unter dem Hashtag #wearehungry aus, die am Ende jedoch aus dem Ruder läuft. Gleichzeitig alarmiert der Familienstreit einen sensationsgeilen Reporter (ebenfalls: Max Roenneberg), der bei Jonas „etwas Großes“ wittert.

Soweit die durchaus aktuelle Problemsituation, die aber noch durch einige spannende Assoziationsebenen unterfüttert wird: Jonas erinnert an den biblischen Jona, der im Bauch eines Wals überlebte und dann der Stadt Ninive den Untergang voraussagte. Im Gegensatz zu heute glaubten dem Propheten die Menschen (etwa 120 000 sollen damals dort gelebt haben) und Gott verschonte ihre Stadt. Auch der mittelalterliche Kinderkreuzzug, Verweise auf zirzensische Attraktionen der Hungerkünstler und die Gesänge der Sirenen mit weißen Overalls als moderne Deutung der Warnungen des antiken Chors führen die Handlung des Stückes in vertiefte Dimensionen.

Die multimediale Präsentation ist ein dickes Plus dieser Inszenierung von Gustav Rueb. Die bühnenbreite Videowand dient als stimmiger Hintergrund, der das Meer praktisch in die Szene plätschern lässt. Florian Barth hat diesen Video-Raum perfekt eingepasst, Jonas Julian Niemann hat für das Stück einen atmosphärischen Soundtrack am Laptop gezaubert.

Und dann ist da noch ein märchenhafter Fisch (Lilly-Marie Vogler), der sich zunächst als Gräten-Gerippe auf dem Esstisch der Familie wiederfindet, gleichzeitig aber mit glitzerndem Schuppen-Pailletten-Kostüm seinen jungen Jäger verzaubert und ihn schließlich in die ewigen Jagdgründe des Meeres entführt. Jonas findet nämlich doch wieder seine Stimme, singt mit sichtlicher Verunsicherung einen Song von Ton Steine Scherben („Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“) und verschwindet dann durch eine Bühnentür in den Tiefen des Salzwassers.

Langanhaltender und absolut verdienter Beifall für einen höchst originellen und aktuellen Text, für ein präzises Ensemble und für eine stets unterhaltsame und zugleich nachdenkliche Inszenierung.

 

https://www.theaterregensburg.de/produktionen/nach-dem-essen.html?m=71&back=day-031023


Gruppenbild mit Hangar (2.v.r.). In der Mitte (mit Gitarre) Lothar Böhm
Gruppenbild mit Hangar (2.v.r.). In der Mitte (mit Gitarre) Lothar Böhm

Hangar - The Art Opera ***

von Lothar R. Böhm

Regie: Kathrin Brockmüller

Kulturforum Schlachthof, Fürth

Premiere am 23.09.2023

 

 

Mit einem spektakulären Multimedia-Projekt eröffnet das Kulturforum Schlachthof die Spielzeit 2023/24. Der Fürther Allround-Künstler und spartenübergreifende „Kaltscher“-Experte Lothar R. Böhm hat zusammen mit Regisseurin Kathrin Brockmüller seinen umfangreichen 600-Seiten-Roman „Hangar - die unglaubliche Reise des Király úr“ zu einer szenischen Lesung mit Rockband-Begleitung, Video-Performances, digitalen Einwürfen und ein paar Figurentheater-Schnipseln verdichtet. Das Ganze wird mit dem ziemlich treffenden Untertitel „The Art Opera“ auf zwei Bühnen-Plattformen präsentiert - und doch bleibt nach 80 - mal dröhnenden, mal poetisch-besinnlichen - Spiel-Minuten die Frage, ob hier wirklich zusammengekommen ist, was zusammengehört.

Die rechte Bühne präsentiert vor allem die schleppenden Gänge der Hauptfigur Hangar (Sigi Wekerle), ein wohl in Budapest lebender Mensch, der sich nie ganz im Klaren ist, ob er gerade träumt oder doch die Wirklichkeit erlebt. In seinem Künstlerzimmer stapeln sich in Kartons gesammelte Traumtagebücher zwischen einer Staffelei (gleichzeitig als Dachfenster verwendbar) und einer Kaffeemaschine. Die Erzählerin (Stefanie D. Kuschill) vermittelt Hangars Gedanken und Erlebnisse. Er schleicht nachts in die Vorstellung eines obskuren Kellertheaters („laienhafter Unsinn“) und findet sich wenig später in einer grünen Naturhölle mit Riesenblättern und Matsch, in dem man versinken kann. Häufig sucht er nach dem mysteriösen Barmann Heinrich (Christian Kaltenhäußer - leider nur als Schauspieler und nicht als Bariton). Am Ende ist Hangar wieder da, wo er am Anfang war - alles dreht sich im Kreis? Das Ambiente und die Texte erinnern an den phantastischen Realismus eines Gustav Mayrink, an das graue Prag Franz Kafkas und an das Magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“.

Auf der anderen Bühne hat sich eine vierköpfige Band namens „Freudeman“ eingerichtet, die das düstere Geschehen teils mit zarten perkussiven Geräuschen, teils mit knalligem repetitiven Psychedelic Prog Rock begleitet. Zwei Schlagzeuger (Markus Grill, Florijan Ribič) und der Bassist Lutz Mays legen das Fundament für die Songs des Bandleaders, Sängers und Gitarristen Böhm, dessen gewollt banale und gleichzeitig sperrige Texte jedoch schwer zu verstehen sind. Der Gesamtsound vermittelt eine Symbiose von Ton Steine Scherben und Van der Graaf Generator (falls diese Band-Namen noch bekannt sind?). Als wenig ergiebiger Kontrast wird ein rein instrumentaler „Radiosong“ der Fake-Gruppe „Die Dominos“ und eine Mitsing-Passage eingestreut. Man muss nicht alles erklären können!

Auf dem Stichwort-Zettel des Kritikers findet sich der Satz „Eine Vorstellung, die ihm keine Freude bereiten wird“; doch - halt -, das ist nur ein Gedanke Hangars im versifften Theater! Lothar Böhm hat im Vorhinein angekündigt, er habe mit dem Projekt etwas zu sagen, was eine gewisse Bedeutung hat. Vielleicht war es dieser Gedanke aus dem Zitatenschatz von Hangar: „Es kann schon sein, dass man in dieser Welt den Überblick verliert!“

 

https://lothar-boehm.de/


Zur schönen Aussicht ***

von Ödön von Horváth

Regie: Susi Weber

ETA Hoffmann Theater Bamberg (Calderon-Spiele / Alte Hofhaltung)

Premiere: 30.6.2023

besuchte Vorstellung: 18.7.2023

 

Ein gewagtes Projekt für Freiluft-Sommertheater: das Bamberger ETA Hoffmann Theater serviert zum unvermeidlichen Aperol Sprizz eine sperrige Komödie des Gesellschaftskritikers Ödön von Horváth, sein dramatisches Frühwerk „Zur schönen Aussicht“ aus dem Jahre 1926 (das übrigens erst 43 Jahre später in Graz zur Erstaufführung kam!).

Man kann an dieser Ansammlung von Menschen im Hotel aber schon das Personal studieren, das Horváth in seinen späteren Werken weiterhin unter die Lupe nahm: den im sozialen Abstieg befindlichen Adel, den präfaschistoiden Macho, die bornierten Spießer und bauernschlauen Kleinbürger, gescheiterte Existenzen, die sich über ihre Lage hinweglügen, am Rande der Legalität wandelnde Individuen mit prekärer Vergangenheit und Gegenwart, die der Spielsucht Verfallenen und die von vergangenem Ruhm Zehrenden. Alles zusammen ein Soziogramm der westeuropäischen Gesellschaft nach dem 1. Weltkrieg und vor der Weltwirtschaftskrise.

Sie alle versammeln sich in einem abgewirtschafteten, verstaubten und verwahrlosten Hotel, irgendwo vor angedeutetem Alpenpanorama, zu dem Horváth wohl in Murnau am Staffelsee ein Vorbild vorgefunden hat, das aber letztlich ein Symbol für den Zustand der Welt insgesamt ist. Bei booking.com wohl nicht mehr zu finden!

Die Bühne (Luis Graninger) vor der Zuschauertribüne erweist sich als zweistöckiger Spielort mit Sitzgelegenheiten und Tischen im Erdgeschoss und sieben Gästezimmern im 1. Stock. Darüber prangt die LED-Leuchtschrift „ZUR SCHÖNEN AUSSICHT“, bei der aber während des Stückes nur die Buchstaben „UR SCHÖN“ und am Ende ganz lapidar die Buchstaben „AUS“ beleuchtet sind - so viel zur aktuellen Energiespar-Debatte!

In der Reihenfolge des Erscheinens lernt man den Kellner Max (Leon Tölle), den Chauffeur Karl (Pit Prager), den Sekt-Vertreter Müller (Marek Egert), den Hotel Chef Strasser (Stefan Herrmann) sowie Emanuel „Bubi“ Freiherr von Stetten (Stephan Ulrich) und seine Zwillingsschwester Freifrau Ada (Iris Hochberger) kennen. Das dramatische Geschehen kommt aber erst richtig ins Rollen mit dem Auftauchen der 21jährigen Christine (Jeanne Le Moign), die vor einem Jahr vom Hotelchef geschwängert wurde und nun seine väterliche Verantwortung einfordert. Dagegen starten die fünf Männer eine konzertierte Aktion, indem sie alle behaupten, mit Christine intime Beziehungen gehabt zu haben; sie sei ohnehin nur eine arbeitsscheue Prostituierte. Doch im Gegensatz zu den armen Hascherln, die in späteren Horváth-Dramen in die Opferrolle gedrängt werden, präsentiert sich Christine als toughe Frau mit finanziellem Erb-Hintergrund, der plötzlich alle Männer den Hof machen. Sie hat Glaube, Liebe und Hoffnung als verklärte Illusionen erkannt und verlässt lieber am nächsten Tag mit dem Frühzug das ruinöse Etablissement. Zurück bleiben fünf abgewrackte Männer, für die Don Henleys Textzeile aus dem Song „Hotel California“ (The Eagles) gelten könnte: „You can check out any time you like / But you can never leave“. Zurück bleibt auch die wie Alice Cooper geschminkte Alkoholikerin und Nymphomanin Ada, die weiß, dass Geld Macht bedeutet, aber zu spät ihre soziale Ader entdeckt und in schönster Horváthscher Dialektik formuliert: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“.

Während bei der Inszenierung vor der Pause noch der dramaturgische Motor stottert und durch vordergründigen Klamauk, Gebrülle und sportliche Artistik übertüncht wird, gewinnt das Stück später an Geschlossenheit und dialogischer Schärfe. Die angedeutete Hawaii-Hemden-Nostalgie mit Steel-Gitarren-Gesäusel und eingestreuten US-Schlagern der 50er Jahre enthüllt nun ihren ideologiekritischen Aspekt: du hast keine Chance, nutze sie! Und - als Provokation für die konservative Bischofsstadt - Gott hilft nur ab und zu - „die meisten dürfen verrecken“!

 

https://theater.bamberg.de/spielplan/stuecke/zur-schoenen-aussicht/


So glücklich, dass du Angst bekommst ***

von Dagrun Hintze und Miriam Tscholl

Gastspiel Theater Dresden

Figurentheaterfestival Kulturforum Fürth

21.05.2023

 

Das Internationale Figurentheaterfestival 2023 endete im Kulturforum Fürth mit einer deutschen Produktion, die mehr auf Menschen als auf Figuren ausgerichtet war. Das Stück „So glücklich, dass du Angst bekommst“ erzählt von einer Migranten-Gruppe, die in der heutigen aufgewühlten Diskussion kaum mehr beachtet wird. Es sind Frauen aus Vietnam, die schon vor über 40 Jahren als Studentinnen oder als Arbeiterinnen in die damalige DDR gekommen sind: 1980 schlossen die beiden Staaten einen Pakt über die Entsendung von Vertragsarbeitern, 1989 lebten etwa 60 000 Menschen aus dem südostasiatischen Staat zwischen Ost-Berlin und Karl-Marx-Stadt.

Letztere Großstadt heißt mittlerweile Chemnitz, hat der Region den Titel Kulturhauptstadt 2025 weggeschnappt, und das dortige Theater initiierte mit dem Projektteam „neue unentdeckte narrative 2025“ ein Recherche-Projekt: die Biografien dreier Vietnamesinnen, die noch heute in Chemnitz leben, wurden in einem Theatertext komprimiert. Und so sitzen nun Frau Lim, Frau Lam und Frau Bich hinter schwarzen Holz-Klötzen, bedienen Singer-Nähmaschinen und erzählen ihre eigene Geschichte: Laien-Theater trifft auf Dokumentartheater und schafft eine bedrückende Authentizität.

Und die Figuren? Das sind drei Puppen (gestaltet von Atif Hussein, geführt von Claudia Acker, Linda Fülle und Thuy Nga Dinh), die Jugend-Bilder der drei Frauen, die mit ihnen in den Dialog treten. Es geht bei diesen Selbst-Gesprächen um Banales und Besonderes, um Kritikwürdiges und um Heiteres, um gefährdetes Glück und um die Mentalität des Immer-nur-Lächelns. Es geht um den Weg von Hanoi nach Chemnitz, um die Lebensbedingungen zu Hause in Vietnam, um die Integration in Deutschland, um die harten Arbeitsbedingungen (Schwangerschaft definitiv unerwünscht!) und um das Erlernen der schwierigen deutschen Sprache. Es geht auch um das Leben nach der Wende 1989, das für viele Vietnamesinnen ein Ende des Aufenthalts bedeutete - wenn sie nicht einen deutschen Mann fanden. Da stößt man dann auf so manche Vorurteile der Deutschen, die in Gerhard Polts Mai-Ling-Sketch („die asiatische Frau schmutzt nicht“) ihren satirischen Brennpunkt fanden.

Miriam Tscholl hat die Bewegungen dieses doppelten Trios unaufgeregt inszeniert, spielt ein bisschen mit Wechseln des Bühnenbildes, farbigen Tüchern und kontrollierten Bewegungen. Am Ende kommen in Video-Botschaften die echten Töchter zu Wort - und siehe: für die nächste Generation scheint die Integration geklappt zu haben. Da darf man das Theater auch mit einem fröhlichen Viet-Pop-Song ausklingen lassen.

 bedrückende Authentizität.

 

https://www.theater-chemnitz.de/figurentheater/premieren/spielzeit-2022/2023

https://programm-nun.de/#aktuelles


Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)
Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)

Orbit - Geschichte einer Band (UA) ****

Rechercheprojekt mit Livemusik von Philipp Löhle, Christian Brey und Thomas Esser

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Prermiere: 20.5.2023

 

Es gab mal ein deutsches Dokumentartheater, Rolf Hochhuth und Peter Weiss waren seine Propheten. Doch im postmodernen und postfaktischen 21. Jahrhundert erfreut man sich eher am Genre des Mockumentary, jenem Hybrid aus Dichtung und Wahrheit, das den Gutgläubigen in die Irre schickt und bei dem Skeptiker ein wissendes Lächeln hervorlockt. Die besten TV-Mock-Momente stammen übrigens von dem Comedian Olli Dittrich. In diesem Sinne hat Philipp Löhle, Hausautor des Staatstheaters Nürnberg, ein „Recherche“-Projekt angestoßen, das über die Jahre 1972 - 1985 die obskure Karriere einer vergessenen Rockband namens ORBIT aufdeckt und mit ein paar Stationen Kulturgeschichte in der Region Nürnberg vermengt. Doch auch ohne Spoiler-Verdacht darf man schon vorher sagen: es ist fast alles erschtonken und erlogen, jedoch getreu dem Motto „Wenn wir es so erzählen, dann war es so!“

1972 treffen sich also fünf ambitionierte Kulturschaffende, denen ein gewisser Herr Gustl eine Garage als Proberaum und seine Kneipe als Live-Bühne anbietet. In schönster Punk-Tradition streiten sie erst einmal, wer eigentlich welches Instrument spielen soll, dann wird über mehrere Tage diskutiert, wie die Band heißen soll. Weil die Vornamen der Musikanten Ottmar, Rolf, Bucki, Isi und Thomas lauten, kommt man auf die geniale Idee „Orbit“, verliert aber den entnervten Sponsor Gustl. Gut, dass es zu dieser Zeit den überregional bekannten Kulturreferenten Hermann Glaser in Nürnberg gab, der sein Projekt der Sozio-Kultur verfolgte und der Band einen Probenraum im ebenfalls überregional bekannten (Massenverhaftungen 1981!) Kommunikationszentrum (genannt „Komm“) vermittelte. Dort nisten sich Orbit häuslich ein und wollen ihr weiteres Leben nur noch der eigenen Musik widmen - bestärkt durch ein allseitiges Gelübde gegen dreckige Ohren. Es wird in der selbst gewählten Klausur viel geredet, die fünf Akteure wirken - eingekleidet in stimmige Klamotten sowie Perücken der 1970er und 80er Jahre wie wandelnde Flokati-Teppiche, das musikalische Equipment wird langsam aufgerüstet, ein vollständiges Schlagzeug fährt aus dem Bühnenboden, Keyboarder Ottmar bekommt noch eine zweite Orgel mit Blechrahmen und Isi, die Frau im Quintett stellt sich hinter ein modernes DJ-Mischpult. Dass man auch im Gefängnis (Massenverhaftungen 1981!) gute Musik machen kann, demonstriert Drummer Rolf, der die Sticks zu Fenstergittern formt und dann „I’ve Been Looking For Freedom“ intoniert. So entstehen im Lauf der Jahre zahlreiche Eigenkompositionen, die textlich einen regional-fränkischen Charakter aufweisen, aber verdammt nach Hits dieser Zeit klingen („Daddy Cool“, „Money, Money, Money“, „In The Air Tonight“, „Billie Jean“),

Schuld daran ist der schleimige Manager Hasso Krüger, der die Orbit-Songs mit dem Tonband aufnimmt und dann weltweit an bekannte Rockbands weiterverkauft. Immerhin schafft er es, die Songwriter-Ikone Bob Dylan vor dessen Auftritt auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände (1978) zu den eingeschlossenen Musikern zu lotsen und ihnen ein Angebot als Vorband zu übermitteln. Doch die deutsche Kultur des Diskurses und des Selbstzweifels führt zu spontaner Auftrittsphobie vor 80 000 Menschen, lieber geht man gemeinsam zum Griechen! Das Ende der Orbit-Geschichte wird durch einen Zufall eingeläutet: die fesche Biggi schaut sich via Fernsehen das Live-Aid-Konzert im Wembley Stadium (1985) an und muss feststellen, dass Freddy Mercury von Queen den Song „Bohemian Rhapsody“ vorträgt, den einige Jahre zuvor Sänger Bucki mit der Band erarbeitet hatte. Manager Krüger flüchtet, er setzt sein Auto und alle darin lagernden Tonbänder in Flammen - Orbit ist damit aus der Musik-Geschichte getilgt wie die Renegaten in Stalins Sowjetunion.

Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)
Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)

Zum Glück bietet der Theaterabend noch einen fulminanten Epilog: Krüger, der mittlerweile unter dem Namen Pius Maria Cüppers als Kammerschauspieler am Nürnberger Staatstheater arbeitet, organisiert eine Hologram-Avatar-Show der Band Orbit, bei der fünf KI-Klone noch einmal ein deftiges Rock-Programm abziehen, bevor sie mit „Major Tom“ und einer Raumkapsel ins Weltall abdüsen.

Die höchst unterhaltsame Rock-Show lebt vom inszenatorischen Tempo des Regisseurs Christian Brey, vom skurrilen Wortwitz des Autors Löhle und von den perfekt musizierenden Schauspielern: Nicolas Frederic Djuren (voc, g), Justus Pfankuch (keyb, g, voc), Sascha Tuxhorn (b, voc), Amadeus Köhli (dr, g, voc) und Pola Jane O’Mara (voc). Ein grandioses und komödiantisch ausgefeiltes Nebenrollen-Potpourri arbeitet Thorsten Danner ab. Die Bühne ist eine Bühne oder besser: eine Proberaum-Bühne mit ein paar Flight-Cases, viel Trockeneis-Nebel und präzisen Licht-Effekten. Bei mehreren Video-Interviews haben Nürnbergs Bürgermeisterin Julia Lehner, Ihre-Kinder-Veteran Ernst Schultz, Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger und mehrere Schauspiel-Kollegen das doppelbödige Spiel mitgemacht. Das Premieren-Publikum war begeistert, feierte das Ensemble mit standing ovations und bekam als Zugabe noch ein originelles „Take On Me“ mit Casio-Orchester im Sitzkreis: einer von vielen Aha-Effekten. „Orbit“ hat auf jeden Fall das Potenzial für einen Kassenknüller!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/orbit-geschichte-einer-band-ua/26-05-2023/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Gostfreundschaft

Ein transkultureller Audiowalk durch Gostenhof (UA) ****

Regie: Pauline Neukampf

Text: Sabrina Bohl, Pauline Neukampf

mit: Aydin Aydin, Lisa Mies (Sprecherin)

 

Das ist nun schon der vierte vom Staatstheater Nürnberg produzierte Audiowalk: nach der Aussiedler-Entdeckung in Langwasser („Willkommen zurück“), nach einem literarischen Text (Franz Kafkas „Das Schloss“) vor der Altstadt-Kulisse, nach der Auseinandersetzung mit gigantomanischer NS-Architektur auf dem Reichsparteitagsgelände nun ein Kiez-Kursus mit Stadtteil-Geschichte und -Gegenwart. Genauer: Eine kleine Spazier-Schleife durch Gostenhof mit Audio-Guide, szenischen Stationen und Mitmach-Angeboten unter dem vielsagenden Leitbegriff „Gostfreundschaft“.

Die thematische Recherche stammt von Pauline Neukampf und Sabrina Bohl, die zahlreiche O-Töne aus dem früher schlecht beleumdeten Glasscherbenviertel gesammelt und prägnante Erklär-Texte geschrieben haben (eingesprochen von Lisa Mies). Die Gostenhofer Walking-Runde beginnt und endet am lauten und architektonisch wertlosen Plärrer, sie führt über sieben Stationen auch in ruhige Gassen und begrünte Hinterhöfe, etwa zu dem lauschigen Petra-Kelly-Platz.

Bei Yusuf Baris‘ Obst- und Gemüsehandel taucht man in das trubelige Ambiente von Gostanbul ein und möchte fast schon ins Restaurant Cesme auf einen Teller Köfte abzweigen. Doch das bleibt ein Plan für nachher, vorher führt der Weg noch an den Sozial-Stationen Nachbarschaftshaus und Heilsarmee vorbei zum Petra-Kelly-Platz, wo ein spontaner Espresso serviert wird.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Dadurch ist man gestärkt für einen Rückblick auf die Arbeiterbewegung in Nürnberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schauspieler Aydin Aydin wartet in einem bedrückenden Kellerraum des Hauses Bauerngasse 29, der an die Zellen des Stasi-Knasts in Hohenschönhausen erinnert. Aydin schlüpft in die Rollen von Karl Liebknecht, der 1914 im Reichstag eine Rede gegen die Kriegskredite gehalten hat, und von Wally Rodammer, einer tapferen Frau aus der Nürnberger Gewerkschafts-Bewegung, deren Buch über die eigene Jugend in Nürnberg („Wally“) leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Danach wieder post-industrielle Frischluft vor der Fabrik des ehemaligen Blechspielzeugherstellers Georg Kellermann und interreligiöse Friedenswünsche im Backstein-Showroom des Ateliers Urban. Die letzte Station kurz vor dem Plärrer erinnert an ein antikes Scherbengericht, allerdings positiv gewendet: jeder Teilnehmer kann vor einer Eisdiele auf eine Glasscherbe schreiben, was für ihn Nachbarschaft ausmacht.

Insgesamt ein lohnenswerter ca. 90minütiger Audio-Walk, diesmal mit mehr touristisch-informativen als theatralischen Elementen, aber mit vielen Blicken über den eigenen Tellerrand.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/gostfreundschaft-ua/13-05-2023/1730


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Moskitos ****

von Lucy Kirkwood

Regie: Bérénice Hebestreit

Premiere am 25.3.2023

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Als Friedrich Dürrenmatt 1962 in seiner mittlerweile zum Klassiker geronnenen Groteske drei Physiker in einer Schweizer Nervenheilanstalt versammelte, konnte er nicht ahnen, dass die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft auch noch 55 Jahre später als Stoff für ein Theaterstück taugen würde. Die englische Dramaturgin Lucy Kirkwood hat 2017 ihr Stück „Moskitos“ im Londoner Royal National Theatre zur Aufführung gebracht, das Nürnberger Staatstheater präsentiert nun (nach der deutschen Erstaufführung 2018 in Kassel) eine bemerkenswerte weitere Auflage dieses well made play nach bester englischer Machart.

Schauplatz ist wiederum die Schweiz, wo die nobelpreis-verdächtige Alice im Genfer Beschleunigungszentrum CERN wissen will, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, und deshalb Elementarteilchen durch die 28 Kilometer lange Schleife mit dem schönen Namen „Large Hadron Collider“ jagt. Doch keine Angst, auch ohne ein abgeschlossenen Physik-Studium kann man dem unterhaltsamen Stück folgen, denn die wissenschaftliche Apparatur ist nur der Hintergrund für ein Familiendrama mit drei Generationen. Alice hat nämlich eine Schwester Jenny, die völlig aus der Art der streng rational orientierten Sippe gefallen ist. Diese rustikale Dreigroschen-Jenny ist eine Glanzrolle für Julia Bartolome, die der Versicherungs-Verkäuferin in einem dubiosen Call-Center herrlich prollige Züge verleiht. Sie ist Querdenkerin, Impfverweigerin und Gelegenheits-Nymphomanin, sie glaubt an Astrologie und bewundert den grandiosen Pimmel ihres Neffen Luke. Manchmal nähert sie sich in ihrer grellen Dümmlichkeit Martina Hills Rolle als Influencerin Larissa in der ZDF-Heute-Show. Das Schwestern-Duell Alice vs. Jenny erinnert außerdem fatal an Michel Houelebecqs provokanten Kult-Roman mit dem hier passenden Titel „Elementarteilchen“, wo allerdings die beiden Brüder Bruno und Michel ihren Privatkrieg inszenieren.

Die multiple Zimmerschlacht wird vervollständigt durch Karen, die Mutter der beiden Schwestern (ebenfalls beeindruckend: Annette Büschelberger). Einst war sie gefeierte Wissenschaftlerin, nun muss sie sich mit Inkontinenz und beginnender Demenz auseinandersetzen. In einem berührenden Monolog erläutert sie ihre These, dass Liebe nicht die entscheidende Kraft im Universum ist, eher glaubt sie da schon an die Schwerkraft oder den Sekundenkleber. Liebe hat der Mensch nur erfunden, um das Chaos zu überwinden!

Als Vertreter der möglicherweise letzten Generation tummeln sich Alices Sohn Luke (Nicolas Frederik Djuren) und seine Freundin Natalie (Elina Schkolnik) auf dem Schlachtfeld der Individuen. Die beiden befürchten, dass die Apokalypse nur noch durch Massen-Sterilisation abgewendet werden kann und beschränken sich folgerichtig auf Distanz-Sex mit Whats-App-Bildern. Erstaunlicherweise mischt sich auch noch Thomas Nunner als belebtes Higgs-Teilchen in die Familien-Streitigkeiten: einmal träumt er im Toni-Erdmann-Kostüm vom zweiten Big Bang und von der Entstehung eines neuen, klügeren Universums, an anderer Stelle erläutert er als Reinigungs-Fachkraft die fünf Varianten eines möglichen Weltuntergangs: Live Aid oder Leifheit?

Das ganze sehr ambitionierte Themen-Panorama wird von der Autorin und Drehbuch-Expertin Kirkwood immer wieder durch präzise Dialoge geerdet und in einen meist schlüssigen - teilweise sogar spannenden - Handlungsrahmen gepackt. Regisseurin Bérénice Hebestreit kann sich auf die stimmige Text-Vorlage und auf das kommunikationsstarke Ensemble verlassen und mit zielstrebigem Tempo und gezielten Black-Outs Akzente setzen. Die Bühne von Mira König zeigt im Vordergrund mit sehr beschränktem Mobiliar die Wohnung der Familie, hinter einem durchsichtigen Vorhang, der auch als Video-Leinwand dient, befindet sich die Stahl-Architektur des abgedunkelten Forschungszentrums.

Der Antagonismus von Wissenschaftsgläubigkeit und schreiender Dummheit, von naivem Optimismus und zynischem Bekenntnis zum Chaos beweist an diesem Theaterabend seine ungebrochene Aktualität. Und der etwas rätselhafte Titel „Moskitos“ bekommt durch häufige Brummtöne eine immerhin angedeutete Erklärung.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/moskitos/04-04-2023/1930

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=22243:moskitos-staatstheater-nuernberg-berenice-hebestreit-inszeniert-lucy-kirkwoods-familiendrama-als-bissiges-hochaktuelles-themenpanorama&catid=247&Itemid=40


Foto: Marina Maisel
Foto: Marina Maisel

Der Biberpelz ****

von Gerhart Hauptmann

Regie: Stefan Zimmermann

a.gon Theater GmbH München

Premiere am 4.2.2023

besuchte Aufführung: 21.2.2023 im Stadttheater Fürth

 

Als der Kölner Kardinal Josef Frings in seiner Silvesterpredigt 1946 den Kohlenklau aus der Notlage der Nachkriegszeit rechtfertigte, war ein neues Verbum geboren: „fringsen“ steht seither für den Tatbestand des Mundraubs. Doch schon über 50 Jahre vorher hat die resolute Waschfrau Wolff in Gerhart Hauptmanns Diebeskomödie „Der Biberpelz“ den Besitzerwechsel von zwei Festmeter Knüppelholz und einem Biberpelz mit einer gewissen Berliner Bauernschläue erläutert: „Mir sein keene Diebe“. Das Tätigkeits-Wort „wolffen“ hätte also durchaus ebenfalls Teil des deutschen Sprachschatzes der sozialen Gerechtigkeit werden können.

In Zeiten von Energiekrise, Heiz-Sparappellen und Strompreisbremsen passt Hauptmanns hintergründiger Vierakter (uraufgeführt 1893) in die aktuelle Kultur-Landschaft - nicht nur an der Spree. Das Münchner Tourneetheater a.gon zeigte im Fürther Stadttheater eine konventionell gestrickte, aber durchaus eindringliche, dialogstarke und unterhaltsame Inszenierung des „Biberpelz“.

Die Mutter Wolffen ist natürlich eine Paraderolle für die durch Bühne, Film und zahllose Fernsehserien gestählte Diana Körner. Sie gibt dieser Mischung aus Mutter Courage, weiblichem Robin Hood und Wilderer Jennerwein eine natürliche Ausstrahlung, verbunden mit einer schnoddrigen Hinterfotzigkeit. Selbst den alten Chef-Dialektiker Bertolt Brecht hat so eine relativ emanzipierte Frauen-Figur („ehrbare Diebin“) zu einer Neu-Bearbeitung veranlasst. Im Programmheft verweist Diana Körner darauf, wieviel heutige Thematik in dem Stück steckt und wie ohnmächtig die Politik der Kluft zwischen arm und reich gegenübersteht. Vielleicht wäre Frau Wolff heute eine Senioren-Aktivistin, die mit dem Jesuitenpater Jörg Alt Lebensmittel-Container vor Supermärkten ausräumt.

Ihr Gegen- oder Mit-Spieler in der Tragikomödie ist der stramm preußische Amtsvor­steher von Wehrhahn, den Oliver Severin mit der satirischen Überspitzung eines George Grosz nachzeichnet. Unter dem preußischen Adler sitzt er mit Scharfzüngigkeit und Sockenhaltern am Schreibtisch („hier bin ich König“), sieht sein Amt als „heilige“ Berufung und macht mit dem Denunzianten Motes Jagd auf den verdächtigen Demokraten Dr. Fleischer (Thomas Henniger von Wallersbrunn in einer reizvollen Schwarz-Weiß-Doppelrolle als Motes und Fleischer). Wehrhahn erinnert in seiner Selbstherrlichkeit und Verblendung an den Kleistschen Dorfrichter Adam, ist aber auch ein Ausblick auf eine Justiz-Verwaltung, die bei der Parole „hier muss mal richtig gesäubert werden“ auf einem Auge blind war.

Daneben präsentieren sich Joachim Völpel als Finanz-Kapitalist und Villenbesitzer Krüger mit Sprachfehler, Lutz Bembenneck als vertrottelter Ehemann Julius Wolff, Laura Maria Puscheck als muntere Tochter Adelheid mit dem Traum vom Theater, Gregor von Holdt als devoter und floskel-beladener Amtsschreiber Glasenapp sowie Marcus Jakovljevic als geschäftstüchtiger Spree-Schiffer.

Regisseur Stefan Zimmermann belässt das Stück in seiner Entstehungszeit und verordnet seinem Ensemble einen gemäßigten Berliner Dialekt, der auch in fränkischen Theatern verstanden wird. Die Bühne von Steven Koop ist eine teilweise durchsichtige Latten-Konstruktion, die mit wenigen Handgriffen von einer einfachen Wohnküche in ein großes Amtszimmer verwandelt werden kann. Das offene Ende entlässt die Zuschauer mit einem anregenden Fragezeichen: auf die forsche Aussage des Amtsvorstehers Wehrhahn („Die Wolffen ist eine ehrliche Haut“) antwortet diese - resigniert den Kopf schüttelnd - „Da weeß ich nu nich …“.

 

https://a-gon.de/produktion/der-biberpelz/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Vendetta Vendetta ***

von Thomas Köck

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 10.2.2023

 

Rache ist süß, jedoch in der zivilisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr politisch korrekt. Rache-Gelüste sind aber wohl ein dauerhafter Bestandteil der conditio humana und können auch im aufgeklärten Rechtsstaat nicht gänzlich verdrängt werden. Eine zusammenfassende Kulturgeschichte des Rache-Motivs wurde noch nicht geschrieben, dafür hat der ober-österreichische Autor Thomas Köck im Auftrag des Schauspiels Leipzig 2021 immerhin ein paar Denkbausteine unter dem Titel „Vendetta Vendetta“ zusammengetragen. Diese wurden nun von Schauspiel-Direktor Jan Philipp Gloger am Nürnberger Staatstheater neu montiert und zu einem unterhaltsamen Mehrsparten-Projekt organisiert.

Auf der Bühne, die vor der Feuerschutzwand ein Treppenhaus im Mehrfamilien-Wohnblock andeutet und dahinter ein griechisches Amphitheater mit animiertem Himmel-Panorama darbietet (ausgedacht von Marie Roth) tummeln sich drei Schauspieler*innen, zwei Sänger*innen, zwei Tänzer*innen und ein siebenköpfiges Ensemble der Staatsphilharmonie. Der musikalische Leiter Kostja Rapoport steht im Bühnenraum am Keyboard und steuert von dort die Produktion der Tonkunst.

Von der griechischen Mythologie (Medea, Elektra) über die Bibel (Kain) und die deutsche und englische Klassik (Shakespeares Shylock, Kleists Kohlhaas, Mozarts Königin der Nacht) bis zur frühen Moderne (Lulu bei Wedekind und Alban Berg) hat Autor Köck das Thema Rache gesucht und gefunden. Die Text- und Ton-Zitate aus den einschlägigen Werken werden durch eine Meta-Diskussion der Akteure verbunden: man sucht nach einer Definition des Begriffs „Rache“, nach den Voraussetzungen für Rache, nach dem Spannungsverhältnis Recht und Rache und nach der Rolle, die den ewigen Kreislauf der Rache beenden könnte. Auf den aktuellen Bezug zum Ukraine-Krieg wird verzichtet; hier wäre aus radikal-pazifistischer Perspektive die Opferrolle dieses Volkes die beste Lösung für ein Ende der Gewalt-Spirale. Dafür geht der abwechslungsreiche Abend der Frage nach, warum die Opfer meist weiblich, die Täter dafür meist männlich waren - Claire Zachanassian in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ ist da wohl ein Ausnahme-Modell.

Glogers Inszenierung setzt auf deftige Kontraste, vermischt die alberne Pantomime mit dem dramatischen Monolog und fordert von den Akteur*innen mutige Rollendistanz. Das Wettrüsten im Mehrfamilien-Wohnhaus ist ein sprachloser Höhepunkt, die Rachepläne von Elektra und Orest im griechischen Restaurant bei Souflaki und Gyros sind eine preiswerte Lachnummer. Mit sichtlicher Freude pendelt Bassbariton Wonyong Kang zwischen Rigoletto-Dramatik und Ski-Ballett, Schauspielerin Elina Schkolnik ergänzt das Stück um eine sehr persönliche Rachefantasie bezüglich ehemaliger Hitlerjungen, und Andromahi Raptis wechselt gekonnt von der Königin-der-Nacht-Arie zur beiläufigen Bemerkung: „Also privat hab ich mit Rache überhaupt null zu tun“!“

Der Schluss erweist sich dann aber als verfehlter Griff ins soziologische Klosett: in einer überlangen Video-Botschaft sing-sprecht der philharmonische Open-Chor die Theorie von der sich als Opfer sehenden Mittelschicht und ihrer daraus resultierenden Aggressivität gegen Minderheiten. Hier wäre Reue (oder Kürzung) geboten.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/vendetta-vendetta/23-02-2023/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Alice im Wunderland ****

Musikalisches Schauspiel für Erwachsene nach Lewis Carroll 

von Johanna Wehner (Text), Vera Mohrs (Liedtexte und Komposition) und Kostia Rapoport (Komposition)

Regie: Ensemble mit Johanna Wehner, Janning Kahnert, Paula Pohlus

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 3.12.2022

 

Bei der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag mussten die Abgeordneten unlängst literarisches Allgemeinwissen bemühen. Bundeskanzler Olaf Scholz attestierte dem Unionsfraktionschef Friedrich Merz, er habe eine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit. Seine Rede habe ihn an „Alice im Wunderland“ erinnert: „Was in Wahrheit groß ist, das reden Sie klein, und umgekehrt.“ Was zunächst logisch klänge, sei in Wahrheit blanker Unsinn. Wer an Merz‘ Behauptungen glaube, der glaube auch an sprechende weiße Kaninchen.

Damit hat Lewis Carolls 1865 veröffentlichte Geschichte nun Eingang in den politischen Diskurs gefunden; knapp 14 Tage später präsentiert die renommierte Opern- und Theaterregisseurin Johanna Wehner im Nürnberger Staatstheater ihre musikalisch angereicherte Text-Version des Kinderbuchs für Erwachsene als Uraufführung im Schauspielhaus. Dies allerdings mit einigen Hindernissen: das schon für 2020 geplante Projekt fiel der Corona-Pandemie zum Opfer, nun musste Johanna Wehner wegen einer Lungenentzündung das Probenfinale distanziert aus dem Krankenbett mitverfolgen und dem Ensemble - allen voran Janning Kahnert und Regieassistentin Paula Pohlus - viel Eigenverantwortung übertragen.

Der Inhalt dürfte und sollte weithin bekannt sein; schließlich nahmen Denis Scheck und auch die ZEIT-Redaktion von 1980 das Buch in den Kanon der 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur auf: Durch ein Kaninchenbau-Loch in der Erde gerät Alice im freien Fall in ein unterirdisches Wunderland, in eine verkehrte Welt voller Irritationen. Dort wird sie konfrontiert mit gefährlichen und manchmal absurden Situationen, gleichzeitig mit den höchst unlogischen Sprüchen, die die Phantasietiere und -menschen im Munde führen.

Recht unterschiedliche Lesarten sind zu diesem Klassiker des literarischen Nonsens möglich: der Übersetzer Christian Enzensberger (Bruder des verstorbenen HME) sah darin 1966 wohl ein antiautoritäres Kinder-Emanzipations-Märchen, anglo-amerikanische Rockmusiker:innen wie Grace Slick (Jefferson Airplane), Tom Waits oder John Lennon verstanden den Text als psychedelisches Traumspiel mit Bewusstseins- und Körper-Erweiterung. Ganz anders die Herangehensweise von Johanna Wehner: sie entzieht „Alice im Wunderland“ die fantastische Märchenhaftigkeit und macht aus dem Text ein dystopisches Exit-Game mit abgeriegelter Tür und allseitiger Sprachverwirrung.

Die fast schon erwachsene Alice (Llewellyn Reichman) wird in eine geschlossene Gesellschaft versetzt, in der eigentlich „kein Platz“ mehr frei ist, in der die gar nicht so tierischen Menschen gehetzt aneinander vorbeireden, in der alles relativ und nur eine Frage des Standpunkts ist. Das erinnert manchmal an ein Handkesches Sprechstück, manchmal an ein absurdes „Endspiel“. Die verängstigte Alice hat so viele Fragen, die alle um das Problem kreisen: Ich bin kein Star, wie komme ich hier wieder raus? Doch die sechs verschrobenen Wunderland-Bewohner machen das Mädchen auf der clever ausgeleuchteten Drehbühne (Benjamin Schönecker) mit ihren Gegenfragen nur schwindlig und flüchten sich lieber in Nonsens-Exkurse über die Nützlichkeit von Silikon-Spritzpistolen, über ungeheuer große Einladungs-Briefe und über die Frage, ob Paris die Hauptstadt von London ist. Janning Kahnert spielt mit Bravour einen konfusen Hutmacher, Annette Büschelberger ist die schnöde Kopf-Ab-Königin und Justus Pfannkuch überzeugt als gehetzter Duracell-Hase. Alice möchte das Gesellschafts-Spiel zwar mitspielen, doch sie weiß nicht, welche Regeln eigentlich gelten und wie man gewinnen oder verlieren kann.

Dazu haben Verena Mohrs und Kostia Rapaport einen stimmigen Soundtrack geschrieben, der wie eine Mischung aus avantgardistischem Elektro-Pop und einer Anmutung von Kurt Weill klingt. Mit zwei Keyboards, Cello, Geige, Bass-Ukulele, Akkordeon und diversen perkussiven Werkzeugen entstehen schräge Chansons mit leicht verrätselten Texten.

So ist der ausgiebig beklatschte Abend eine lohnende, kurzweilige und hintersinnige Denksport-Aufgabe; insbesondere geeignet für die Millionen von Menschen, die unermüdlich in Festzelten und Après-Ski-Hütten „Who the f… is Alice?“ grölen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/alice-im-wunderland-ua/07-12-2022/1930


Foto: Sandra Then
Foto: Sandra Then

Die Affäre Rue de Lourcine ****

von Eugène Labiche

Regie: András Dömötör

Residenztheater München

Premiere am 18.11.2022

besuchte Vorstellung: 24.11.2022

 

Selbst im Theater nennt man das einen Filmriss: wenn man nach einer durchzechten Nacht wieder nach Hause kommt und sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern kann. Genau das passiert dem Rentier Lenglumé, der zudem noch feststellen muss, dass neben ihm im Bett ein fremder Mann - der ihm sehr ähnelt! - namens Mistingue liegt. Als die Haushälterin Justine dem Verkaterten die (allerdings falsche) Morgenzeitung bringt, liest er die Meldung von einem Mord in der Rue de Lourcine an einer Kohlenschlepperin. Eine Reihe von Indizien (Kohlenstaub, Damenschuh, Häubchen, Gehstock) deuten darauf hin, dass er selbst der Täter war!

So ist die bekannteste Boulevardkomödie von Eugene Labiche konstruiert, der seine Vaudeville-Stücke praktisch in Serienproduktion fabrizierte, meist aber noch einen Ehebruch (und ein paar Lieder) ins Geschehen einbaute. Seine Hauptpersonen sind Spießbürger mit Morgenmantel und Pantoffeln, deren bürgerliche Doppelmoral Kratzer erleidet.

Die flotte Übersetzung von Elfriede Jelinek hat Regisseur Andras Dömötör nochmals aktualisiert und durch die Mangel seiner Gag-Ideen gezogen. Daraus entstanden 80 Minuten atemloser Unterhaltung, die lediglich beim Griff in die Horror- und Splatter-Kiste etwas überzogen wirken. Dömötör hätte sich nämlich noch mehr auf die komödiantische Qualität seiner drei Hauptpersonen verlassen können, den beiden verstörten Männern Thomas Lettow und Michael Wächter und der Ehefrau Norine, die Mareike Beykirch mit einer Glanzrolle als halb-emanzipierter und gleichzeitig genervter Mutter ausstattet.

Die Bühne von Sigi Colpe ist eine sehr nüchternes Pressspan-Innen-Architektur, an den beigen Wänden kleben große Geldscheine als Machtmittel des Bürgertums, manchmal schiebt sich ein schwarzer Kasten als Symbolisierung des schwarzen Loches in Lenglumés Kopf ins Geschehen. Wegen der hohen Etagen-Konstruktion sollte man allerdings die vorderen Reihen des Theaters meiden, weil man dort einen steifen Nacken riskiert! Ob es überhaupt nötig war, die Szene noch durch Live-Video-Projektionen (Zsombor Czeglédi) zu ergänzen, kann trefflich diskutiert werden.

Am Ende steht ein vorhersehbares Happy End, doch die Untiefen und Abgründe im Hobby-Keller der bürgerlichen Welt bleiben in Erinnerung.

 

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/die-affaere-rue-de-lourcine


Foto: Krafft Alexander
Foto: Krafft Alexander

Das Erbe (UA) **

von Nuran David Calis

Regie: Pinar Karabulut

Kammerspiele München

Premiere am 23. November 2022

 

Vor genau dreißig Jahren ereignete sich in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln ein Brandanschlag auf zwei, von türkischen Familien bewohnte Häuser. Das Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund, bei dem es drei Todesopfer und neun Schwerverletzte gab, erregte bundesweites Aufsehen. Der Theater- und Filmautor Nuran David Calis war damals 16 Jahre alt und das Thema ließ ihn nicht mehr los. 2014 entwickelte er zum zehnten Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Köln-Mühlheimer Keupstraße am Schauspiel Köln das Stück „Die Lücke - Ein Stück Keupstraße“, später das Nachfolgeprojekt „Die Lücke 2.0“. Anfang 2022 erarbeitete Calis wiederum in Köln mit Schauspielern, die ihre eigene Biografie einbrachten, das Stück „Mölln 92/22“. Nun folgte als Uraufführung an den Münchner Kammerspielen ein weiteres Kapitel dieses Erinnerungsreigens, die Tragödie in drei Akten mit dem Titel „Das Erbe“.

Aus diesem erneuten Blick zurück im Zorn ist nun jedoch mit Hilfe der Regisseurin Pinar Karabulut etwas geworden, das für drei ganz verschiedene Theaterabende gereicht hätte. Bereits Calis kann sich offenbar nicht entscheiden, was der Abend nun sein soll: gut gemeintes Deklamations-Theater gegen Ausländerfeindlichkeit, Thesen-Stück über Deutsch-Türken zwischen Assimilation, Integration und kultureller Selbstbehauptung oder ein grundsätzliches Generationen-Drama, wie es sich in jeder Familie ereignen könnte.

Was an den drei Tagen zwischen dem 23. und 25. November 1992, in denen das Stück spielt, passiert: nach dem Tod des schwerreichen türkischen Unternehmers Murat Dogan, der in Deutschland eine erfolgreiche Logistik-Firma aufgebaut hat, sind sich seine Witwe und die drei Kinder nicht einig, wie sie mit dem Erbe umgehen sollen. Arzu, die älteste Tochter (Elmira Bahrami), tritt als bekennende Lesbe auf, betreibt eine Kunstgalerie in London und greift auch mal zur Hasch-Zigarette. Tochter Leyla (Zeynep Bozbay) dagegen ist eine überzeugte Kopftuchträgerin, lebt mit ihrem Mann, einem Imam, in Istanbul und sieht in dem aufstrebenden Politiker Erdogan eine neue Hoffnung für die Türkei. Sohn Halil (Mehmet Sözer) schließlich ist der Hahn im Korb, aber auch ein offensichtlicher Versager, denn seine bisherigen unternehmerischen Versuche endeten alle mit der Insolvenz. Dogans schwerkranke Witwe Nazik (Sema Poyraz) will nur noch das testamentarische Vermächtnis ihres Mannes durchsetzen: die Familie und die Firma in Deutschland erhalten. Am Abend nach der Rückkehr von der Beerdigung schwirren durch alle Medien die Nachrichten von den Ereignissen in Mölln. Damit wird die Debatte in der Familie auf eine neue Ebene gehoben.

Soweit eine Konstellation, die durchaus Spannungspotential hat, was aber schon durch das Auftreten der Anwältin Ilias (Edith Saldanha) unterminiert wird. Ihre Zeigefinger-Auftritte mit quasi-pastoraler Attitüde wirken außerdem ein bisschen aus der Zeit gefallen. Auch die Gespräche der drei Geschwister haben immer wieder die Tendenz zu einem schlichten Argumentations-Aufsage-Theater. Und kann man diesen wohlhabenden und stylisch gekleideten Jung-Millionären wirklich abnehmen, dass sie sich fragen, ob sie in diesem „Scheiß-Deutschland“ leben können, ohne sich zu verleugnen? Man sehnt sich im Laufe des Abends manchmal nach der Erfüllung einer Bitte von Tochter Arzu: „Können wir nicht einmal normal miteinander reden?“

Dies alles spielt sich auf einer leergeräumten blauen Drehbühne ab (Aleksandra Pavlovic), hinter der ein blauer Gaze-Vorhang flattert und über der ein imposantes Lichtobjekt wie eine Mischung aus Damokles-Schwert, UFO oder Kronleuchter schwebt. Am Anfang des dritten Aktes erlebt man plötzlich eine vernebelte und ziemlich sinnfreie Dance-Pantomime zu dröhnendem Industrial-Techno-Sound. Für Kino-Liebhaber gibt es zahlreiche Video-Sequenzen (Susanne Steinmaßl) mit beeindruckender Rainer-Werner-Fassbinder-Ästhetik, in denen etwa die Zwanzig-Millionen-Dogan-Villa vorgestellt und eine Nebenhandlung mit zwei Angestellten (Stefan Merki als DDR-Flüchtling Gerhard und Vincent Redetzki als dessen Neffe Bernd) präsentiert wird.

Auf das mehrheitsfähige Schlusswort von Anwältin Ilias („Unsere Geschichten müssen erzählt werden … es ist Zeit zuzuhören“) folgt langanhaltender Beifall, der abrupt abbricht, als eine Liste von Opfern rechtsradikaler Gewalttäter über die Videowand läuft.

 

https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/programm/13685-das-erbe-mras


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Nibelungen ****

von Friedrich Hebbel

Regie: Armin Petras

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 19.11.2022

 

Die Walküren haben es wahrscheinlich schon geahnt: drei Tage vor der Nürnberger Premiere von Hebbels Trauerspiel „Die Nibelungen“ zog sich Hauptdarsteller Felix Mühlen einen Bänderriss zu. So musste sich der eigentlich unverwundbare Held Siegfried im ersten Teil mit einem Rollstuhl auf der Bühne bewegen. Doch abgesehen vom Pech des Schauspielers passte dieses Missgeschick irgendwie zu der knalligen Inszenierung von Armin Petras. Dieser wollte nämlich das „deutsche“ Heldenepos keineswegs unkritisch auf die Bühne bringen, sondern die inneren Widersprüche der Geschichte plakativ veranschaulichen. Dass er dabei seinen Assoziationskasten etwas überdehnt hat und die Zuschauer in ein schrilles Wechselbad von Hyper-Emotionalität und Klamauk versetzt, lässt sich verkraften.

Es wäre nämlich definitiv nicht angemessen gewesen, diesen Mythos, der sich durch Mord, Betrug, Hass, Rache, Machtgier und Hinterlist definiert, unhinterfragt zu präsentieren, diese Collage aus Hybris und übermuot mit Schlagworten wie „Nibelungentreue“ oder „Dolchstoßlegende“ zu kaschieren. So findet Regisseur Petras eine Fülle von meist provokativen Verfremdungen und Parallelebenen: Die Sippe der Burgunder wird gleich am Anfang als aufdringliche Pauschal-Touristen vorgestellt, die sich mit Norweger-Anorak und Snowboard bei Brunhild (Julia Bartolome) in Island vorstellig macht. Diese Brunhild ist kein kraftstrotzendes Mannweib, sondern eher eine schmächtig-gestählte Marathonläuferin im Schlabber-Look, die mit keifender Stimme ihrer Agenda folgt. Dagegen sieht man König Gunther (Rafael Rubino) als rechten Trottel, der auf der Donau-Flusskreuzfahrt nach Ungarn alle Passagiere mit Ketchup und Mayo besudelt und offensichtlich in die Behandlung bei einem Urologen gehört. Spielmann Volker (Yascha Finn Nolting) steht mit Stratocaster-Rockgitarre auf der Bühne und intoniert ohne die Kratzigkeit von Bonnie Tyler „I'm holding out for a hero 'til the end of the night / He's gotta be strong, and he's gotta be fast / And he's gotta be fresh from the fight”. Nach so einem Helden sehnt sich Kriemhild (als Gast in Nürnberg: Sabine Waibel), die in farbig wechselnden Pailletten-Roben Liebe und Rache personifiziert und in einem Video-Clip durch den Odenwald rennt, wo ihr Mann im fluoreszierenden Laterna-Magica-Design brutal hingerichtet wurde. Die Hochzeitsnacht im Wormser Schloss fand vorher auf nüchternen Schaumstoff-Dämmplatten statt, der Nibelungen-Hort wird im Aldi-Einkaufswagen herumgekarrt, bevor er im Rhein verschwindet. Dass der Intrigant Hagen von einer Frau (Stephanie Leue) gespielt wird, untermalt die Schlager-These „Das Böse ist immer und überall“. Dazu kommt im Gegenzug noch eine männliche Frigga (Tjark Bernau), später performt dieser mit Hausjäckchen einen Dietrich von Bern, der gelassen die Neue Züricher Zeitung liest. Man sieht, hier wird einiges gegen den Strich gebürstet, hier werden tradierte Sehgewohnheiten bitter enttäuscht.

Für das abschließende Gemetzel bei Etzel reichen dann eher düstere und morbide Symbole: alle stehen im Regen und ein überdimensionales Knäuel aus Plastikmüll und blutverschmierten Altkleidern bewegt sich von unten nach oben - und zurück. Es ist also schon ein rechter Kessel Buntes und Nachdenkliches, das da in den gut drei Stunden angeboten wird. Nicht so radikal in der Kritik wie Heiner Müllers „Germania. Tod in Berlin“, aber auch nicht so beliebig wie Moritz Rinkes Wormser Freiluft-Spektakel.

Das Nürnberger Premierenpublikum war trotz mancher Ratlosigkeit ziemlich begeistert; für kreuz-konservative Bayreuth-Pilger und für Sucher nach deutsch-nationalen Identitäten muss aber jetzt schon eine Warnung vor den erwünschten Nebenwirkungen dieser Inszenierung ausgesprochen werden.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/die-nibelungen/19-11-2022/1930


Oleanna ****

von David Mamet

Regie: Werner Müller

Stadttheater Fürth

Premiere am 17.11.2022

 

Vor dreißig Jahren hielten viele Menschen MeToo für eine asiatische Hardrock-Band, Gender-Sternchen für Himmelskörper; die Universitäten waren noch nicht von Studierenden und Lehrenden bevölkert, sondern vom Herrn Professor und der verschüchterten Studentin. Doch schon 1992 verfasste David Alan Mamet unter dem Eindruck des öffentlichkeitswirksamen Falls „Hill vs. Thomas“ sein Theaterstück „Oleanna“, das seitdem (in der Übersetzung von Bernd Samland) Einzug in die Repertoires deutschsprachiger Theater gehalten hat - nun auch als Eigenproduktion des Fürther Stadttheaters.

„Oleanna“ ist ein Kammer-Macht-Spiel in drei Akten für zwei Personen und ein Telefon; Schauplatz ist das Büro des Hochschul-Professors John. Dieser vertritt - fast wie einst Mephisto in der Schülerszene von „Faust“ - zynische Thesen zum Mythos höherer Bildung. Dabei erkennt er nicht, dass für seine Studentin Carol ebendiese Bildung lebenswichtig ist: „Ich muss den Schein machen!“ Leider versteht sie aber seine Theorien nicht und attestiert sich selber Dummheit. Darauf wird der Professor auf einmal menschlich und entwickelt Sympathie für die verstörte Carol, fasst ihr beruhigend an die Schulter. Der problematische Dialog der beiden wird ständig durch Telefonanrufe unterbrochen: Johns Frau Grace und sein Steuerberater berichten von einem Hauskauf und fordern seine Anwesenheit beim Vertragsabschluss. Das ist also das wahre Motiv von John: er will eine verbeamtete Stellung als Hochschulprofessor erreichen und für seine Familie einen komfortablen Wohnort schaffen.

In den beiden folgenden Akten dreht Carol das Spiel um. Nun ist sie die Anklagende, hat einen Beschwerdebericht an die Uni-Leitung geschrieben und bezichtigt John sexistischer Verhaltensweisen und des Machtmissbrauchs. Die Sitzordnung im Büro (Bühne: Andreas Braun) ändert sich, die Dialoge werden schärfer, und John erkennt nun, dass sein Lebensentwurf existenziell gefährdet ist. Er soll sogar ein Schuldeingeständnis unterschreiben um sich in seiner Stellung zu halten.

Das Besondere an Mamets Wort-Gemetzel ist, dass der Autor völlig neutral bleibt und es dem Zuschauer überlässt, auf wessen Seite er sich schlagen will. Intendant Werner Müller verlässt sich als Regisseur auf die Dialog-Schärfe der Textvorlage, er hat mit Lisa Fedkenheuer und Andreas von Studnitz zwei profilierte Akteure, die den beiden Hauptpersonen ein eindrucksvolles Profil geben. Studnitz ist in dezente Brauntöne gekleidet (Kostüme: Kaja Fröhlich-Buntsel), er erinnert an den „Irrational Man“ in Woody Allens gleichnamigen Film (2015). Seine körperliche Größe mutiert immer mehr zur Gebeugtheit, seine Sprache ist vom Anakoluth geprägt, von einer erstaunlichen Bandbreite aus Intellektualität und Vulgarität. Ganz anders die Carol von Lisa Fedkenheuer: zunächst ist sie ein armes Hascherl, Typus verunsichertes Erstsemester, mit Schlabber-Strickjacke und City-Rucksack. Bald aber steckt sie ihr Haar hoch und wird zur kampfbereiten Frau, zur cleveren Lobbyistin ihrer Sache.

Das Spiel endet nach 90 spannenden Minuten mit einem 2:1 für die Studentin Carol. Doch sie erkennt, dass ihr Sieg wohl um ein Tor zu hoch ausgefallen ist: beide Kontrahenten haben sich in eine Lose-Lose-Situation hineinmanövriert: „einer muss immer leiden, und bisweilen leiden wir alle. Ist es nicht so?“. Oder: wenn menschliche Kommunikation von Macht-Ritualen bestimmt ist, gibt es nur Verlierer. Langanhaltender Beifall des Premierenpublikums für einen kurzweiligen und ungebrochen aktuellen Theaterabend.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/01D0CC2BE6018B17C125885300502E12?Open&showId=7677&


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel ****

von Theresia Walser

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (3. Etage)

Premiere am 4.11.2022

 

Es ist ein Zickenkrieg hinter dem Vorhang, den die Zuschauer vor dem Vorhang live miterleben. In dem 2013 uraufgeführten Stück „Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel“ - übrigens ein zynisches Zitat aus einem Gedicht des libyschen Despoten Muhammar al-Gaddafi - hat Theresia Walser, die jüngste Tochter von Martin Walser, drei (eigentlich fünf) Diktatorengattinnen in einem fiktiven Setting arrangiert: es ist die Stunde vor einer Pressekonferenz, bei der sie über die mögliche Verfilmung ihrer Lebensgeschichten Auskunft geben sollen. Daraus entsteht ein pointenreiches Kabarett-Kammerspiel mit politischem Hintergrund und partieller Demaskierung.

In Nürnberg hat nun Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger dieses Stück für die 3. Etage entdeckt und zu einer Talk-Show-Bühne für drei profilierte Schauspielerinnen (und - nicht zu vergessen - einen Mann) gemacht. Lisa Mies spielt mit Verve Frau Leila, eine Hybrid-Version von Leila Ben-Ali (Tunesien), Suzanne Mubarak (Ägypten) und Asma al-Assad (Syrien), alles Länder, in denen einmal das Pflänzchen Arabellion zu wachsen schien. Adeline Schebesch ist die kapriziöse Frau Imelda (Marcos), die Schuhe-sammelnde Gattin des Philippinen-Diktators Ferdinand Marcos mit schusssicherem BH. Die brillante Annette Büschelberger arbeitet sich kratzbürstig an Frau Margot (Honecker) ab, sicher die politischste Figur in diesem Trio, da die anderen beiden Damen eher Objekte der Yellow Press waren.

Im Wortsinne zwischen den Stühlen - die Bühne (von Marie Roth) besteht tatsächlich nur aus vier roll baren Polstersesseln und einem schlichten Kaffeewägelchen - irrlichtert Justus Pfannkuch als Simultan-Dolmetscher Gottfried aus Jena (?), stets in devot gebückter Haltung, der die gegenseitigen Verbal-Attacken der streitfreudigen Damen abzumildern versucht.

So entsteht ein farbiges Charakter-Spektrum aus starrsinniger Selbstbehauptung des stalinistischen Sozialismus, aus politischer Ahnungslosigkeit und aus schlichter Verharmlosung. Frau Margot postuliert kämpferisch: „Ich stehe hier nicht als Frau Ich stehe hier als Idee!“. Nie würde sie auf einer Bühne von links nach rechts gehen, trinkt aber gerne das Imperialisten-Gesöff Coca-Cola. Frau Imelda denkt im goldfarbenen Glitzer-Kostüm vor allem an die eigene Dekoration, an süße Makrönchen und Blumen. Die Gewaltherrschaft im eigenen Land (Philippinen) ist für sie nur eine dramatische Opern-Inszenierung. Frau Leila schwankt zwischen Bildung und Einbildung und beklagt sich über die weltweite Diskreditierung ihrer Person.

Das Stück lebt von den flotten und bissigen Dialogen, die meistens auf der eher heiteren Seiter des politischen Kabaretts verharren. Am Ende aber gibt es noch eine satte Portion schwarzen Humors, als Frau Margot die Urne ihres Erichs präsentiert und dessen Asche versehentlich auf der Bühne verstreut wird. Das hätte auch Thomas Bernhard nicht besser erfinden können!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/ich-bin-wie-ihr-ich-liebe-aepfel/04-11-2022/2000


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Don Karlos ****

von Friedrich Schiller

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 17.9.2022

 

Alles dreht sich im Königreich Spanien des 16. Jahrhunderts: um den Machterhalt des Königs Philipp II., des Weltreiches und der katholischen Kirche. Alles dreht sich auch im Kopf des Kronprinzen Don Karlos (häufig auch Carlos geschrieben), der hin- und hergerissen ist zwischen einem frühneuzeitlichen Ödipus-Komplex und den revolutionären Freiheitsideen seines Freundes Marquis von Posa.

So präsentiert sich die stimmige und durchaus zeitlose Inszenierungsidee von Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger beim Saisonauftakt des Nürnberger Staatstheaters. Dazu hat er sich von Marie Roth einen Rundlauf bauen lassen, der aussieht wie eine horizontale Gebetsmühle aus spanischen Wänden. In der drehen sich die Akteure unterwürfig im Kreis: entscheidend ist, dass das System am Laufen bleibt!

Friedrich Schillers Mischung aus Ideendrama und politischem Staatsdrama (uraufgeführt 1787 in Hamburg) hat viel von der frührevolutionären Räuber-Aufbruchstimmung, weist aber in Sprache und Abgewogenheit schon auf die Weimarer Klassik hin. Diese Mischung aus Emotion und beginnender Resignation ist auch in Glogers Konzept zu erkennen. Der Marquis Posa von Yascha Finn Nolting ist ein glühender Stürmer und Dränger, der aber im Verlauf der Geschichte zum ideologisch verbohrten Robespierre wird und den Karren der Geistesfreiheit in den Dreck zieht. Der König Philipp II. (Janning Kahnert) entwickelt sich am Ende nicht zu einem kaputten Autokraten wie Kreon oder King Lear, er sieht sich - trotz privater Einsamkeit - in seiner Status-Quo-Realpolitik sogar weitgehend bestätigt. Die systemtragenden Strippenzieher Herzog Alba (relativ eindimensional: Sascha Tuxhorn) und Beichtvater Domingo (Thomas Nummer, er spielte übrigens schon 1997 in Nürnberg den Don Carlos und 2013 den König Philipp) sind die vorläufigen Sieger - und das wohl bis auf den heutigen Tag? Die weiblichen Hauptrollen präsentieren eine im Ansatz emanzipierte Elisabeth (Llewellyn Reichmann) und eine in ihrer Intrige nur partiell überzeugende Prinzessin Eboli (Lisa Mies). Maximilian Pulst verabschiedet sich aus Nürnberg (er ist seit Juli Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters) mit einem feuerköpfigen Don Karlos, der Züge von Büchners Danton und dem UK-Prinzen Harry trägt. Er legt seine Gefühle schutzlos blank und ist damit als Thronfolger nicht zu gebrauchen.

Die Nürnberger Inszenierung setzt auf Texttreue und behutsam historisierte Gewänder (Justina Klimczyk). Die verwirrende Ansammlung von falschen Briefen in Schillers „Familiengemälde“ kann letztgültig nicht ganz aufgelöst werden. Deshalb laden eher die spannungsreichen Dialoge (neuerdings auch mit englischen Übertiteln), zum konzentrierten Zuhören ein, vielleicht auch zu aktuellen Assoziationen in Zeiten von Ukraine-Krieg, autoritären Machthabern, Königinnen-Bestattung und kirchlichem Amtsmissbrauch. Oder wie Regisseur Gloger zu den Zuschauern sagen könnte: „Ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre!“ Bei der ausverkauften Premiere gab es jedenfalls langanhaltenden Beifall.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/don-karlos/17-09-2022/1900


Foto: Armin Smailovic
Foto: Armin Smailovic

Verrückt nach Trost  ****

von Thorsten Lensing

Regie: Thorsten Lensing

Salzburger Festspiele 2022 (Universität Mozarteum, Max-Schlereth-Saal)

Premiere: 6.8.2022

besuchte Vorstellung: 17.8.2022

 

Über Salzburg hängt eine massive Hitze-Glocke, die bis in das Foyer des Mozarteum-Beton-Quaders hineinreicht. Drinnen erfrischen sich zwei Kinder, die zehnjährige Charlotte und der elfjährige Felix am Strand. Sie sind nicht „verrückt nach Meer“, sondern eher „verrückt nach Trost“, weil ihre Eltern gestorben sind. Diesen Trost finden sie ansatzweise, wenn sie das Verhalten ihrer Eltern bei früheren Strandbesuchen nachspielen. Es geht ums „Sich-gegenseitig-Eincremen“, ums Kuscheln im Bademantel und um ein Kuss-Training.

Dies ist die Ausgangssituation die Thorsten Lensing - erstmals als Autor und Regisseur - für sein kongeniales Mimen-Quartett entworfen hat. Bei Thomas Bernhard würde so ein Stück vermutlich „Blomberg, Jung, Lardi, Striesow“ heißen und um ein Vielfaches galliger daherkom­men. Lensing kaschiert die Ratlosigkeit und Beziehungs-Inkompetenz seiner Figuren durch komische Slapstick-Einlagen, durch philosophische Dialoge und durch gewagt-phantastische (alp)traum-ähnliche Assoziationen. Die Bedrohlichkeit und Absurdität des Lebens, das man - schlag nach bei Beckett! - eigentlich nur mit einer gewissen Verrücktheit ertragen kann, wird durch einen riesigen Metall-Zylinder symbolisiert (Bühne: Gordian Blumenthal und Ramun Capaul), der am Anfang die Meeresbrandung symbolisiert und am Ende an den Bühnenrand rollt und damit den Lebensraum im Alter begrenzt.

Es handelt sich also bei Lensings neuestem Projekt nicht um postmodernes oder de­konstruktives Regietheater sondern um schillerndes Schauspieler-Theater, bei dem der nur manchmal etwas papieren wirkende Text eine prächtige Spielwiese für die vier Darsteller ausbreitet. Ursina Lardi und Devid Striesow spielen die beiden Kinder und verfolgen mit großer Präzision weitere Lebens-Stationen bis zum 88. Geburtstag. Striesow benennt sich als gar nicht glücklicher Felix, der nichts mehr fühlt und spürt, aber immerhin noch in der Lage ist einen poetisch zündenden Wetterbericht abzuliefern. Sebastian Blomberg und Andre Jung greifen mit teilweise leicht verrätselten Funktionen in das bild- und sprachstarke Geschehen ein. Blomberg ist ein leidenschaftlicher Taucher, der nur in den Tiefen des Meers seine Ruhe findet, nachdem ihm der Alltag sein Gehör zerstört hat. Auf festem Boden wäre er eigentlich am liebsten nur ein Stuhl, weil er dann immerhin eine klar definierte Aufgabe hätte, oder eine Schildkröte wegen der radikalen Entschleu­nigung. André Jung mischt sich als sprachloser Orang-Utan in die Szene, spielt dann einen gealterten schwulen Liebhaber, der die Geräusche eines früheren Freundes abhört, um wenigstens auf diesem Weg noch eine Beziehung herzustellen. Am Ende ist er der empathische Pflege-Roboter für die 88jährige Charlotte (Ursina Lardi), die vorher als hyperaktive Stabhochspringerin und als Octopussy gymnastische Glanztaten vollführt hat.

Bei ihrer Feier zum 88. Geburtstag im Seniorenheim stimmt der Saal „God save the queen“ an und sie verkündet als Schlussgedanke noch ein Quantum Trost: „alle werden erlöst!“ Zum Beispiel in die laue Salzburger Nacht mit einem eisgekühlten Sommerspritzer.

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/p/verrueckt-nach-trost


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Wer ist wir?     ***

Installativer Rundgang mit Beiträgen von Max Czollek, Cana Bilir-Meier, Thomas Perle, Atif Mohammed Nour Hussein, Branko Janack u.a.

Dramaturgie, Produktionsleitung und Künstlerische Leitung: Fabian Schmidtlein, Greta Calinescu

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere: 10. Juni 2022 (Kongresshalle)

Besuchter Rundgang: 23.6.2022 (19.30 Uhr)

 

Die Kongresshalle auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände ist seit langem eine Ansammlung von Steinen des Anstoßes, ein dankbares Objekt für den Streit über die richtiger Erinnerungskultur. Teile des kolossalen Gebäudes werden kulturell genutzt: von den Nürnberger Symphonikern und zeitweise als Ausweichquartier des Nürnberger Sprechtheaters. 2009 inszenierte Kathrin Mädler Peter Weiss‘ Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ als bedrückenden Rundgang durch die Backstein-Flure der Kongresshalle. 2022 wird nun ein „installativer Rundgang“ in Bereichen der Außenfassade angeboten: „Wer ist wir?“ soll als eine Mischung aus Audio-Spaziergang und Stationen-Drama die Probleme zivilgesellschaftlichen Gedenkens thematisieren.

Fabian Schmidtlein und Greta Calinescu haben dazu verschiedene KünstlerInnen um Beiträge gebeten, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Aufgabenstellung auseinandersetzen. Kleine Besuchergruppen starten im 30-Minuten-Takt an der Südpforte des Volksfestplatzes, statt Drei im Weckla, Zuckerwatte und Achterbahn gibt es am Anfang ein anspruchsvolles Essay von Max Czollek unter dem Titel „Beunruhigungskultur“ auf die Ohren - nicht ganz leicht zu rezipieren, wenn nebenan leise der Dutzendteich plätschert und die Sonne vom Himmel sticht. Aussagen von Betroffenen des NSU-Terrors (eingelesen von Süheyla Ünlü) bilden dann eine halbschattige Standpauke und einen Sprung in die bundesdeutsche Aktualität. An der Außenwand der Kongresshalle warten Aydin Aydin und Thorsten Danner neben einer lebensgroßen Puppe im Rollstuhl, die der Berliner Atif Hussein geschaffen und mit einem Monolog versehen hat. Ziemlich sprunghaft und höchst assoziativ berichtet die Zausel-Figur von Beobachtungen am Rande des Monumental-Gebäudes. Die nächste (vierte) Station ist eine Art Ausstellung mit Video-Präsentation, die von Nachfahren der Gastarbeiter-Generation gestaltet wurde. Immerhin war die Kongresshalle eine lange genutzte Packstation der Versandfirma Quelle. Was das wiederum mit der bayerischen Revolution von 1918 und dem Unabhängigkeitskampf in Pakistan zu tun hat, muss der Zuschauer selbst erschließen. Süheyla Ünlü und Anette Büschelberger laden danach vermeintlich zu einem Glas Schampus ein, predigen aber mit Texten von Hannah Arendt und Eike Geisel eher hart gekalktes Wasser - noch dazu in einer schwer aufzureißenden Alu-Folie. Die knapp zweistündige Runde endet mit einem Wiesen-Picknick, bei dem eine migrantisch strukturierte Gruppe der Nürnberger Stadtgesellschaft - instruiert von Theaterpädagogin Anja Sparberg - unterschiedlich spannende Ich-Botschaften aufsagt, immerhin mit wuchtigem Postkarten-Blick auf die Kongresshalle.

Das Ganze ist ein manchmal mühsamer Walk of german life für gutwillige Kultur-Touristen, die auch Ratlosigkeit noch als verstörende Anregung empfinden. Kathrin Mädlers Ermittlung hatte da vor etwa 13 Jahren eine ganz andere Sprengkraft. Mittlerweile wurden schon mehrere Rundgänge aus „dispositionellen Gründen“ abgesagt - zu wenig Nachfrage?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/wer-ist-wir-ua/09-07-2022/1730


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Der unsichtbare Reaktor (UA)   ****

Projekt von Nis-Momme Stockmann und Jan-Christoph Gockel

Regie: Jan-Christoph Gockel

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 21.5.2022

 

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“ formulierte Matthias Claudius empfindsam und treffend. Postmodern weitergedacht heißt das dann bei dem Schriftsteller Nis-Momme Stockmann (geboren 1981): wenn mich das Goethe-Institut nach Japan einlädt, dann kann ich daraus ein theatralisches Reiseprojekt mit politischem Hintergrund machen. Es war 2012, ein Jahr nach dem katastrophalen atomaren GAU in Fukushima, als Stockmann sich entschied, in dieser Region mit Notizblock, Fotoapparat und Videokamera zu recherchieren. Es entstanden Interviews mit dort lebenden Menschen, Nachfragen bei Fachleuten und viele Bilder einer zerstörten und verstrahlten Landschaft. 2016 fuhr er noch einmal dorthin, die Sammlung von Notizzetteln und audiovisuellen Dateien schwoll an. 2021 hätte dann die nächste Reise mit einer Gruppe von Schauspielern stattfinden sollen, weil „wahr ist es nur, wenn man da war“.

Doch die Pandemie verhinderte diesen Schlussteil des Projekts, und Stockmann kam auf eine einerseits abwegige, andererseits geniale Idee: er mietete sich den Japaner Yuichi Ishi als Stellvertreter. Ishi war Eingeweihten durch „Family Romance LLC“ (2019), den Film von Werner Herzog bekannt, in dem der deutsche Regisseur das skurrile Geschäftsmodell des Japaners dokumentierte. Bei der Firma „Family Romance“ kann man Stellvertreter für alle Lebenslagen buchen.

Damit war nach zehnjähriger Projekt-Arbeit der Weg frei für die Uraufführung des Stückes am Staatstheater Nürnberg in der Regie von Jan Christoph Gockel, der zuletzt „Wer immer hofft, stirbt singend“, eine vogelwilde Zirkusshow nach Motiven Alexander Kluge an den Münchner Kammerspielen inszeniert hatte.

Wer jetzt freilich ein nüchternes politisches Doku-Drama über den Reaktor-Unfall und seine Folgen erwartet, wird enttäuscht. Dem reisenden Schriftsteller Stockmann geht es vielmehr um eine Selbstreflexion seiner eigenen Rolle als Katastrophen-Tourist und um einen oft sehr emotionalen Drahtseilakt zwischen Wirklichkeit und emotionaler Träumerei. Dazu bringt er sich selbst als fünfmal gespaltene Persönlichkeit auf die Bühne, viermal in Gestalt der Schauspieler Julia Bartholome, Llewellyn Reichmann, Moritz Grove und Raphael Rubino, einmal durch seinen medial vermittelten Stellvertreter Ishi. Mit Kostümen in Holzfäller-Karos, Brillen und Plastik-Perücken illustrieren sie die inneren Monologe des Autors im Stile eines „Making Of“: Wie soll ich anfangen? Ist das Thema nicht schon längst vom Tisch? Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie! Teilweise fürchtet man, das gewagte multimediale Projekt könnte sich in einer Art „Lost In Translation“ verlieren: „Sag was, damit es weitergeht!“, „Ich bin ratlos“, „An dieser Sache bin ich gescheitert“.

Doch am Ende ist es ein Fundstück am Strand von Fukushima, eine auf einer Schutthalde liegende Tee-Tasse, die als geisterhaftes Sinnbild des ausgelöschten Lebens in den Vordergrund rückt. Oder ist es doch nur ein banaler Glühwein-Becher vom Nürnberger Christkindlesmarkt? Die Wahrheit ist fragil!

Regisseur Gockel hat zusammen mit Julia Kurzweg (Bühne und Kostüme) die schräge Stockmannsche Zettelwirtschaft geradezu poetisch in Szene gesetzt. Mit einer verstörenden Dialektik aus schwülstigem Barock-Dekor und moderner Video-Technik wird die Doppeldeutigkeit des Stückes unterstrichen. Auf der großen Leinwand sieht man die Video-Passagen aus Fukushima, auf der Bühne tanzen die Akteure mit fluoreszierenden Umhängen im Schwarzlicht. Zahnräder aus den Anfängen der Industriellen Revolution befördern ein Stockmann-Alter-Ego mit einem Wolken-Ballon wie Deus ex machina aus dem Schnürboden, putzige Tsunami-Wellen schieben sich als Laubsäge-Arbeiten über die Bühne, dazu mutiert als Soundkulisse der Song „La mer“ zu einem pumpenden Techno-Beat.

Warum in Deutschland am 30. Juni 2011 der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde, warum in Frankreich - und auch in Japan! - unverbrüchlich an der Atomenergie festgehalten wird, das kann und will uns dieses Theaterstück, das sich ganz demütig „Projekt“ nennt, nicht erklären. Wie wir aber mit der Realität von (unsichtbaren) Katastrophen umgehen können, ohne in eine resignative Paranoia zu verfallen, das haben Stockmann und Gockel kongenial ausgebrütet.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/der-unsichtbare-reaktor-ua/31-05-2022/1930


Schtonk!   ****

nach dem Film von Helmut Dietl und Ulrich Limmer / Bühnenbearbeitung: Marcus Grube

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 7.5.2022

 

Er ist wieder da! Der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher, der 1983 die Glaubwürdigkeit der Wochenzeitung „Stern“ erschütterte, ereignete sich zu einer Zeit als der Begriff Fake News gänzlich unbekannt war, als gelbe Telefonzellen zur Kommunikation genutzt wurden und als der SPIEGEL-Journalist Claas Relotius noch in den Kindergarten ging. Für alle, die zur U-50-Generation gehören und das skurrile Geschehen nicht live mitverfolgt haben, hier die Fakten: der Reporter Gerd Heidemann vermittelte die von Konrad Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher an die Illustrierte „Stern“, die dafür knapp 10 Millionen D-Mark springen ließ und den Fund als Weltsensation feierte, nach der „weite Teile der deutschen Geschichte … neu geschrieben werden“ müssen.

1992 machte Helmut Dietl, der weiß, dass die Medien-Realität oft die beste Satire ist, aus diesem Armutszeugnis der Sensationspresse einen viel beachteten Film mit Starbesetzung (Götz George, Uwe Ochsenknecht, Christiane Hörbiger, Harald Juhnke, Veronica Ferres u. v. a.); 2018 schrieb Marcus Grube für die Landesbühne Esslingen eine Theaterfassung, nun folgte auch das Staatstheater Nürnberg dem Textangebot.

Regisseur Christian Brey, in Nürnberg bereits erprobter Fachmann für leichtere Stoffe, musste allerdings eine Probenphase mit Pleiten, Pech und Pannen durchleben. Zuerst torpedierten zahlreiche Corona-Fälle im Ensemble die Zeitplanung und zwangen schließlich zu einer Verschiebung der Premiere um zwei Wochen. Gleichzeitig waren auch noch Personalrochaden notwendig, weil Maximilian Pulst (vorgesehen für die Hauptrolle des Hermann Willié) ans Wiener Burgtheater wechselt und weil Pauline Kästner (vorgesehen für die Rolle der Martha) sich nach Düsseldorf verabschiedete. So kam Justus Pfannkuch relativ spontan in den Genuss der Hauptrolle, die Rolle der Martha wurde kurzerhand ganz gestrichen.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Doch - oh Wunder - trotz all dieser Malaisen entstand ein bezaubernder Theaterabend, eine satirisch zugespitzte Komödie über Sensations-Journalismus und Nazi-Nostalgie, garniert mit punktgenauer Slapstick-Choreografie und stimmigem musikalischen Background. Anette Hachmann sorgt rund um die gut geschmierte Drehbühne für eine bewegliche Szenerie mit vier Handlungsorten: der Göring-Yacht „Carin II“, der chaotischen Fälscherwerkstatt von Fritz Knobel (Amadeus Köhli), einer mit bis zu vier Personen füllbaren Telefonzelle und dem Besprechungs-Büro der Zeitung. Deren Polstermöbeln ging zwar vernehmlich die Luft aus, was aber für die Inszenierung ganz und gar nicht zutraf. Christian Brey hält die 80er-Jahre-Show permanent am Laufen und schafft spannende Kontraste zwischen Jacketts mit Schulterpolstern und folkloristischen Trachtenjankern, zwischen Hitlers Blähungen und dem kommerzgesteuerten Opportunismus der Journalisten.

Justus Pfannkuch gibt dem Hermann Willié (nur echt mit einem Akzent auf dem letzten e!) die nötige Macho-Öligkeit und prinzipienlose Geldgierigkeit. Mit protziger Brusthaarperücke wirft er sich in Görings Oligarchen-Bademantel und becirct die adelige Nichte Freya von Hepp (Ulrike Arnold), die statt Reitpeitsche ein bisschen rhythmische Bandgymnastik demonstriert. Sehr schön auch Michael Hochstrasser (in seiner letzten Rolle vor der Rente!) als eitler Kunstprofessor Strasser (!), der jederzeit zu Gefälligkeits-Gutachten bereit ist. Genauso stilecht Thomas Nunner als Nazi-Devotionalien-Sammler Karl Lentz, an seiner Seite der krasse WK-2-Invalide, Obergruppenführer von Klantz (Thomas Esser). Gegen die späteren NSU-Terroristen wirken diese Retro-Chargen geradezu rührend. Artistisch beeindruckend der Stern-Verlagsleiter Dr. Wieland von Yascha Finn Nolting: immer bereit zu einer Rolle rückwärts in die Vergangenheit! Mit vielen kleinen Auftritten ein Meister der multipersonalen Rollenvielfalt und der Sprach-Variationen: Sascha Tuxhorn.

Thomas Esser produzierte zu dem bunten Treiben einen schmissigen Soundtrack, bei dem Freddy Quinns „Seemann, lass das Träumen“ zu einem Ballermann-Party-Hit mutiert.

Die Inszenierung beginnt mit dramatischen Feuer-Bildern vom Mai 1945 in Berlin, einer Audio-Sequenz aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ und der Verbrennung des Leichnams von Adolf Hitler, sie endet mit wahnhaften Phantasien des Star-Reporters, der - wie Kate Winslet auf der Titanic - vom Bug der „Carin II“ in den Untergang blickt. Darf man nun über Hitler und seine nostalgischen Nachlass-Verwalter lachen? An diesem Abend muss man!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/schtonk/13-05-2022/1930


Mein ziemlich seltsamer Freund Walter ****

von Sybille Berg

Regie: Marco Steeger

Stadttheater Fürth

Premiere am 24.4.2022 (Kulturforum Schlachthof)

 

Lisa ist ein junges Mädchen - im Originaltext knapp neun Jahre alt -, das sich am liebsten im kleinen Kinderzimmer aufhält, wo sie ein großes Kuschelkissen, einen selbstgebauten Computer und ein leistungsfähiges Teleskop um sich hat. Die Welt draußen, ihr „hundekackfarbiger“ Wohnblock ist dagegen eine ständige Bedrohung, weil die Eltern - alkoholisiert und arbeitslos - sich um nichts kümmern, weil auf dem Spielplatz nur prollige Jung-Rapper darauf warten, ihr ein „Opfer“-Plakat auf den Buckel zu kleben und weil sie in der Schule zur gemobbten Einzelgängerin und zum Feindbild ihrer Lehrerin geworden ist.

Lisa wirkt also ziemlich realistisch, ist zunächst aber die Hauptperson in einem Theaterstück für Kinder und Jugendliche, das Sibylle Berg 2014 im Auftrag der Kulturstiftung NRW geschrieben hat und im Consol-Theater Gelsenkirchen uraufgeführt wurde. „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ gibt es nun auch in einer bemerkenswerten Produktion des Stadttheaters Fürth, ausgelagert in das Kulturforum Schlachthof.

Marco Steeger - fast zwanzig Jahre lang Ensemblemitglied des Staatstheaters Nürnberg und schon immer ein Freund des jungen und jung gebliebenen Theaters - hat die Inszenierung übernommen und eine dynamische, moderne, effektvolle, gleichzeitig aber stets nachdenkliche Bühnenfassung in 80 pausenlosen Minuten gezaubert.

Auf rohen Paletten stehen drei originell illuminierte Glaskäfige (Ausstattung: Linda Hofmann) als Symbole für Lisas Horror-Orte: das Schlafzimmer der Eltern („Wir waren mal eine glückliche Familie“), der Spielplatz („es gibt was auf die Fresse“) und das Schulzimmer („einfach nur langweilig“). Dieses Stationen-Drama durchläuft Lisa jeden Tag, vormittags hin, nachmittags zurück. Doch plötzlich wird ihr Traum Wahrheit: nicht ein deus ex machina bricht in die Szenerie, sondern ein UFO mit exterrestrischen Touristen! Den meisten ist es auf der Welt jedoch zu kalt und zu fremdenfeindlich, nur der 345 Jahre alte Klakalnamanazdt bleibt als sympathischer E.T. zurück.

Lisa nennt ihn zur Vereinfachung Walter, und er startet mit ihr ein Überlebenstraining: sie lernt, wie man sich mit Kung Fu wehrt, wie man die kapitalistische Ökonomie hinterfragt und wie man Lebensqualität definiert. Am Ende steht eine für die Autorin Sibylle Berg fast überraschend positive Mutmach-Botschaft: Aufstehen! Wieder Gehen lernen! Du schaffst es jetzt auch alleine da unten!

Mit Spielfreude und Präzision hält das vierköpfige Ensemble die Geschichte am Laufen. Hannah Candolini ist eine zunehmend selbstbewusste Lisa, Sunna Hettinger und Frederick Redavid switchen temporeich zwischen der Erzählerrolle und der Darstellung von Eltern, Jung-Gangstern und Lehrerin. Mark Harvey Mühlemann stolpert mit einem Hut aus Gummihandschuhen und farbigem Eingeborenen-Kostüm als externer Evaluator durch den grauen Erd-Alltag. Poetry-Slam-Passagen, packende Video-Sequenzen und eine stimmige Hintergrundmusik runden die Fürther Berg-Expedition ab. Langer Beifall beim Premierenpublikum aus allen Altersgruppen.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/CBFD32D93729A471C125875E0028E8F0?Open&showId=7399&


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Amphitryon ***

Lustspiel von Heinrich von Kleist

Regie: Anne Lenk

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 26.3.2022

 

Ach, Alkmene, was hast du dir nur dabei gedacht, als du - unwissend und hinterlistig getäuscht - mit dem Präsidenten des thebanischen Fußballverbands ins Bett gestiegen bist, während dein Mann, der berühmte Mittelstürmer Amphitryon, beim alles entscheidenden Endspiel der Weltmeisterschaft in Pharissa weilte, wo er mit drei Toren zum glänzenden Sieg beitrug? Hast du oberflächliche Spielerfrau nicht bemerkt, dass dir mit dem wertvollen Siegerpokal (im Original war es mal ein goldenes Diadem) ein X für ein U - oder besser: ein A für ein J - vorgemacht wurde?

Für die „Amphitryon“-Inszenierung im Nürnberger Staatstheater hat sich Anne Lenk, die 2020 und 2021 mit zwei Produktionen des Deutschen Theaters Berlin zum Berliner Theatertreffen geladen war, die Welt des Profi-Fußballs als (gewagte) Metapher einfallen lassen. Nun gut, auch da gibt es Fußball-Götter, die Dialektik von Schein und Sein spielt eine wesentliche Rolle und protziges Macho-Gehabe gehört zum Rollenmuster. Und wie sagte schon der legendäre schottische Fußballspieler Bill Shankly: „Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!"

Wenn es jedoch um die tragischen Aspekte dieses Lustspiels von Heinrich von Kleist geht, dann entspricht die Fallhöhe der weiblichen Hauptperson gerade mal den zehn Zentimetern ihrer goldenen Plateauschuhe. Denn diese Alkmene (Anna Klimovitskaya) erscheint im Dallas-Look der 1980er Jahre mit Blondie-Perücke, erst im altrosafarbenen Chiffon-Mini, dann im langen Kleid mit Push-Up-BH (Kostüme: Sibylle Wallum), sie vermittelt etwas Objekthaftes und ist den Übergriffen des Jupiters schutzlos ausgeliefert. Erst als sie ahnt, dass mit ihr ein perfides Doppelspiel getrieben wird, als die Ungewissheiten der Wahrnehmung und auch bezüglich der eigenen Identität einsetzen, gewinnt sie an Profil und an weiblichem Me-Too-Selbstbewusstsein.

Ihr gegenüber stehen zwei Männer - ebenfalls mit blonder Perücke: der Ehemann Amphitryon (Sascha Tuxhorn) und der Göttervater Jupiter (Tjark Bernau), der auch als entrückter Olympier geliebt werden und als aus den Sternen herniedersteigender Liebhaber seine Lust-Befriedigung haben will. Es macht ihm offensichtlich eine teuflische Freude, die Irdischen in völlige Verzweiflung über sich selbst und über ihre Beziehungen untereinander zu versetzen. Beiden Herren mangelt es ziemlich an Attraktivität in ihren graukarierten Sporthemden mit der Rückennummer 10, den kurzen Feinripp-Unterhosen und den weißen Sportsocken, aber wer mit Bällen spielen kann, hat bei Frauen offensichtlich die besten Chancen. Für den echten Amphitryon entwickelt sich schnell eine bei Fußballern eher selten anzutreffende Identitätskrise, frei nach dem Buchtitel von Richard David Precht „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Ähnliches gilt für den Öffentlichkeits-Referenten Sosias (Janning Kahnert), der aber in utilitaristischer Diener-Mentalität gerne seinen Namen an den Gott Merkur (Yascha Finn Nolting) abgibt. Das kann auch die Beziehung zur handfesten Charis (Lea Sophie Salfeld) nicht dauerhaft beschädigen.

Die Produktion war in Nürnberg schon seit zwei Jahren in Arbeit, nun hat man mit großen Pandemie-Pausen den Weg zur Premiere gefunden. Die Bühne von Judith Oswald mit vielfältig beweglichen Kassettenwänden, die sich auch trefflich als Video-Projektionsflächen eignen, erzeugt manchmal unruhigen Drehschwindel, wohl passend zu der Fake-Strategie der Götter. Das Dramaturgie-Konzept, an dem neben der Regisseurin auch Gastdramaturgin Andrea Vilter mitgestrickt hat, macht teilweise Spaß, doch es knirscht auch ein bisschen, wenn sich Blankverse mit Doppelpass und Viererkette vermischen sollen. Rhetorik-Professor Walter Jens, der für sich zu Lebzeiten die Gleichzeitigkeit von Hochkultur und Fußball-Leidenschaft eingeräumt hat, hätte an dem verwirrenden Treiben womöglich seine Freude gehabt. Endstand: ein leistungsgerechtes Unentschieden für Anne Lenk und ihr spielfreudiges Ensemble. Freundlicher Beifall des Publikums auf den Sitzplätzen, die Ultras von den Stehrängen waren noch nicht zugelassen.

Für Alkmene, der am Ende - ganz streng in Schwarz gekleidet - das berühmte Schlusswort („Ach!“) übrigbleibt, ist die Rolle als Leihmutter ein fragwürdiger Trost. Immerhin darf sich die thebanische Nationalmannschaft in ca. 18 Jahren auf einen neuen galaktischen Superstar namens Herkules freuen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/amphitryon/01-04-2022/1930


Foto: Stefan Nimmesgern
Foto: Stefan Nimmesgern

Erich Kästner: Ein Mann im Schnee   ****

Regie: Martin Mühleis

mit: Walter Sittler

Stadttheater Fürth (28.1.2022)

 

Eigentlich sind es vier Männer, die für die Bühnen-Produktion „Ein Mann im Schnee“ verantwortlich zeichnen. Zuerst natürlich Erich Kästner (1899 - 1974) selbst, dessen Texte zum Thema Weihnachten und Winter die Basis für eine Mischung aus Schauspiel, Lesung und Musik bilden. Dann der Autor Martin Mühleis, der nun schon zum dritten Mal als Text-Koordinator und Regisseur einen Erich-Kästner-Abend gestaltet hat. Sympathischer Frontmann auf der Bühne ist der bekannte Schauspieler Walter Sittler als freier Sprecher und lesender Rezitator am Holztisch. Den stimmigen musikalischen Hintergrund besorgt Komponist Libor Ŝima, der für die sechsköpfige Band „Die Sextanten“ (mit Bandleader Uwe Zaiser am Saxophon und Lisa Barry - als einziger Frau - an der Violine!) weihnachtliche Melodien in ein leicht swing-jazziges Arrangement verpackt hat.

 

Schon vor einem Jahr hätte dieses mal heitere, mal nachdenkliche Schnee-Treiben mit Video-Background (Illustrationen: Mario Lars) im Fürther Stadttheater gastieren sollen, nun hat es bei immerhin 50-prozentiger Auslastung der Zuschauerplätze im grauen Omikron-Januar 2022 geklappt.

 

Im ersten Teil steht TV-Serien-Star Walter Sittler als Kästner mit Knickerbocker und Karostrümpfen auf der Bühne und erzählt von den turbulenten 1920er Jahren, wo es sich die Familie Thaler wegen der Arbeitslosigkeit des Vaters nicht leisten kann, ihrem Sohn Martin die Bahnkarte für die Heimfahrt aus dem Internat an Weihnachten zu bezahlen (aus: „Das fliegende Klassenzimmer“). Im kalten Berliner Dezember 1928 singt die Arbeiterklasse unterm Weihnachtsbaum: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt. / Mutter schenkte euch das Leben. / Das genügt, wenn man’s bedenkt.“ Andererseits beleuchtet er satirisch das mondäne Treiben in Wintersportorten, wo sich Besserverdiener - wie auch der Autor Kästner! - mit der Drahtseilbahn auf sonnenbeschienene Gipfel trans­portieren lassen und bei Skilehrer Toni Privatkurse nehmen (aus: „Drei Männer im Schnee“).

 

Der zweite Teil versammelt Kästner-Texte über den Nachkriegs-Winter 1945, wo nun der 46jährige (lebenslang unverheiratete und damals auch noch kinderlose) Erich nicht zu seiner geliebten Mutter nach Dresden fahren kann und sich stattdessen an die Reichskristallnacht im November 1938 erinnert, die bei ihm mahnende Worte über die Umwertung aller Werte, über den Triumph des Inhumanen in der Zeit des Nationalsozialismus auslösen. Der eilige Nikolaus und der Hausierer in der Vorweihnachtszeit sind leider Trickbetrüger, und in der Silvesternacht blickt Sittler-Kästner bei 12 Grad unter Null vom Balkon auf die Ruinen von München und skandiert: „Lasst das programmen! / Und bessert euch drauflos!“.

 

Man wünschte heutigen Debatten manchmal etwas mehr vom Mut und von der Klugheit eines Erich Kästner, sein bekanntes Gedicht, das den Abend beschließt, sollte auf Neujahrs-Grußkarten gedruckt werden: „Wird's besser? Wird's schlimmer? / fragt man alljährlich. / Aber seien wir ehrlich, / Leben ist immer / lebensgefährlich.“ Lang anhaltender Beifall für Sittler & die Sextanten.

 

https://www.sagas.de/ensemble/walter-sittler-die-sextanten-in-ein-mann-im-schnee-weihnachten-mit-erich-kaestner


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Was ihr wollt    ***

von William Shakespeare

Regie: Rafael Sanchez

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 21. Januar 2022

 

Ach, Illyrien, du fernes Fantasialand für Gestrandete, für Liebessucher und Selbstdarsteller - wo bist du nur zu finden? Nach der „Was ihr wollt“-Inszenierung von Rafael Sanchez im Nürnberger Staatstheater kommt die geografische Frage einer Lösung etwas näher: die Insel muss irgendwo zwischen Ballermann, Ibiza und Tauris liegen. Dort treffen Paare und Passanten mit offenen Zweier-Beziehungen und offenen Rechnungen aufeinander, man feiert am Strand zügellose Partys, geht seinen diversen erotischen Neigungen nach und lebt nach der Methode „Alles ist verkleidet, nichts ist, wie es scheint“.

 

Die Bühne - konstruiert von Eva-Maria Bauer - zeigt sich in einer Raunacht im nasskalten deutschen Januar als wärmende Sandstrand-Idylle mit Fernweh-Garantie; Liegestühle, Sonnenschirme, Wasserbälle, Schwimmreifen und eine Kiste Corona-Dosenbier liegen bereit. Der Hintergrund ist eine große Videowand, die abwechselnd mit Meereswellen, quietschbunten Kreisen oder einem Aquariums-Bildschirmschoner mit Seepferdchen bespielt wird. Drohend formt sich in der Mitte ein schwarzes Loch, durch das am Anfang die schiffbrüchigen Zwillinge Viola (Süheyla Ünlü) und Sebastian (Justus Pfannkuch) an Land gespült werden.

 

Mit ihrer Männer-Verkleidung und einem hautfarbenen Brusthaar-T-Shirt bringt Viola ein Karussell der Irrungen und Wirrungen in Bewegung, in das die ganze Insel-Gesellschaft involviert ist. Als vermeintlicher Knabe Cesario erledigt sie Botengänge für den unglücklich liebenden Herzog Orsino zu dessen Angebeteter Gräfin Olivia, wird aber bald selbst zum Objekt der Begierde für die Gräfin. Und erst die Ankunft ihres verschollen geglaubten Zwillingsbruders Sebastian löst die Verwicklungen.

 

Man fühlt sich an einen Film von Paolo Sorrentino aus dem Jahre 2011 erinnert („La Grande Bellezza“), eine melancholisch-träumerische, hypnotisch-verführerische Kino-Geschichte über Exzess, Dekadenz und eitles Geschwätz, in der die italienische Promi-Gesellschaft von Silvio Berlusconi bis Flavio Briatore demaskiert wird. Beim Nürnberger Shakespeare gehören Hawaiihemden, Bermudahosen und Goldkettchen zum unverzichtbaren Inventar, man tanzt wie im Club Méditerranée den Bonga Cha-Cha-Cha als trunkene Polonaise oder singt mit dem Schmelz von Rolando Villazon „Unbreak My Heart“ oder „O Sole Mio“.

 

Gräfin Olivia (Stephanie Leue) torkelt als schrille „Lady In Black“ zwischen den blauweißen Polstern, Sir Toby (Felix Mühlen) und Sir Andrew (Pius Maria Cüppers) geben sich als dümmliche Malle-Proleten die Kante, und Dienstmädchen Maria (Pauline Kästner) schwelgt in sadistischen Phantasien: „Dreams Are My Reality“. Die Närrin (Adeline Schebesch) sondert weise Sprüche ab, die keiner hören will, und verkleidet sich gerne auch mal in einen scheinheiligen Geistlichen. Den skurrilen Kostüm-Höhepunkt (Ursula Leuenberger) bietet der gehörnte Hausmeister Malvolio (Nicolas Frederic Djuren), der sich im schwarzen Borat-Tanga (natürlich auch mit gelben Kniestrümpfen) der Gräfin nähert, dann aber - dank Videoprojektion - in Dunkelhaft versetzt wird. Von der beflissenen bayerischen (!) Polizei wird er mit Elektro-Schockern getriezt und angekettet dem Grafen Orsino (Amadeus Köhli) vorgeführt.

 

Man sieht also, dass Regisseur Raphael Sanchez der eigentlich unkaputtbaren Shakespeare-Komödie, die sich aus Verwechslungen und falschen Brief-Botschaften speist, ordentlich Zucker in den Hintern geblasen hat, dabei aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen ist. Schrille Dialoge, hektische Musikeinspielungen, laute Revolverschüsse, nonverbaler Catch as catch can, ein bisschen Überdosis an Faschingstreiben - da macht sich im Corona-bedingt nur zu 25 Prozent besetzten Zuschauerraum manchmal ein lähmendes Gefühl breit: ist das nicht viel Lärm um nichts?

 

Die Inszenierung findet zum Glück aber noch einen höchst originellen und versöhnlichen Abschluss: fernab vom Originaltext startet Olivia einen grandiosen Monolog, in dem sie das ganze Bühnen-Personal sprachmächtig abkanzelt und damit in einer theatralischen Meta-Ebene die tragischen Abgründe aller Personen herausarbeitet. Danach flimmert an der Videowand noch ein selbstgemachtes Live-Musik-Video, in dem das ganze Ensemble in der Proben-Werkstatt beob­achtet wird. So kann ein Happy End für den aufgeklärten Theaterbesucher auch aussehen.

 

PS: Ob Shakespeares berühmte Amüsier-Droge auch Nebenwirkungen hat, erklärt „Thomas Gottschalk“ in einem genderpolitisch korrekten Video-Statement!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/


Foto: Stadttheater Fürth
Foto: Stadttheater Fürth

Mein Kampf   ****

von George Tabori

Regie: Ute Weiherer

Fürther Bagaasch-Ensemblebühne

Premiere im Kulturforum Schlachthof Fürth am 10.12.2021

 

Darf man über Hitler Witze machen? Charlie Chaplin (Regisseur und Hauptdarsteller des Films „Der große Diktator“), Edgar Hilsenrath und Timur Vernes (Verfasser der Romane „Der Nazi & der Friseur“ und „Er ist wieder da“) würden diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantworten. Der ansonsten unbekannte Filmstudent Florian Wittmann hat mit seiner Neusynchronisation einer Hitler-Rede durch den Sketch „Leasing-Vertrag“ von Gerhard Polt einen veritablen YouTube-Hit gelandet. Und auch George Tabori hat 1986 entschieden, dass für die Auseinandersetzung mit der Unperson des 20. Jahrhunderts eher eine Farce geeignet ist. So entstand „Mein Kampf“ und erlebte 1987 die Uraufführung unter der Regie von Tabori am Wiener Burgtheater.

Beeinträchtigt von denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen hat nun die Fürther Bagaasch-Ensemblebühne ihre Version dieses Stückes verwirklicht. Eigentlich sollte die Premiere schon vor ziemlich genau einem Jahr stattgefunden haben; die Pandemie hat dies verhindert. Dann starb Regisseurin Ute Weiherer am 1. Mai dieses Jahres, so wurde der neuerliche Premierentermin im Kulturforum Schlachthof zu einem posthumen Vermächtnis, belastet durch schmerzliche Corona-Auflagen. Umso mehr muss man der ambitionierten Produktion Beifall zollen und ihr mehr Zuschauer für die folgenden Aufführungen wünschen.

Taboris Stück ist ein hintersinniger, dialektisch angehauchter und teilweise provokanter arisch-jüdischer Dialog zwischen dem jungen Kunststudenten in spe, Adolf Hitler, und dem verarmten jüdischen Antiquar Shlomo Herzl, die beide um 1910 in einem Wiener Männer-Obdachlosenheim Aufnahme gefunden haben.

Karsten Kunde spielt den Hitler als grelle Karikatur mit blau-weißem Ringel-T-Shirt, Lederkniehose und Nazi-Undercut. Er leidet nicht nur unter geistigen Blähungen, liebt es, die Schlachthof-Säulen zu umarmen, träumt mit beleuchtetem Globus von Weltherrschaft und von Untertanen, die auf Gummibärchen-Niveau geschrumpft sind. Schon bei Brechts „Arturo Ui“ ahnte man: er ist ein mieser Schauspieler, er sollte in die Politik gehen!

Mit ihm zusammenwohnen muss Shlomo Herzl, den Uwe Weiherer als eine Mischung aus weisem Nathan und Woody Allen, aus analytischem Sigmund Freud und traurigem Clown verkörpert. Ganz utilitaristisch denkt er, man solle seine Feinde lieben wie sich selbst und fürs Geschäft auch mal eine Ausgabe des Neuen Testaments verkaufen. Bei seinem eigenen Roman, der den Arbeitstitel „Mein Kampf“ trägt, ist er über den Schlusssatz noch nicht hinausgekommen.

Zwei weitere aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte wohlbekannte Figuren verkörpert Rike Frohberger (die Tochter von Ute und Uwe Weiherer). Einmal ist sie Gretchen, hier in der nympho-germanischen Lolita-Version, die nach einem Quickie mit Hitler bekennt: „Mir graut vor dir!“ Zum anderen ist sie der schwarz gekleidete Tod, der in Hitler einen begabten Würgeengel und Meister aus Deutschland erkennt.

Frank Strobelt vervollständigt das präzise Ensemble-Quartett als besserwisserischer Koch Lobkowitz und als blutrünstiger Heinrich Himmlisch, der mit dem Hackebeil ein Huhn schlachtet und auf dem Gas-Grill (?) zubereitet. Merke: Wer Vögel verbrennt, wird auch Menschen verbrennen!

Die Premierenbesucher haben natürlich nicht lauthals gelacht, beklatschten aber ein facettenreiches Täter-Opfer-Spiel, untermalt von Wiener-Walzer-Träumereien, drei abgenutzten Nachtlagern und nachdenklichen Monologen.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/77DAE085C479C25DC125875E0028E8E3?Open&showId=7287&

https://www.fuerther-bagaasch.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Anfang und Ende des Anthropozäns (UA)  ****

von Philipp Löhle

Regie: Jens-Daniel Herzog

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 19.11.2021

 

Das Anthropozän ist ein Zeitalter, in dem der Mensch das Schicksal des Planeten Erde maßgeblich bestimmt. Der Auftakt dieser Epoche wird von Wissenschaftlern unterschiedlich definiert: ist es der Beginn des 17. Jahrhunderts mit der systematischen Kolonisierung Amerikas, ist es der Beginn des 19. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution oder ist es die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der militärischen Nutzung der Atomkraft? Gleichzeitig wird in Zeiten des vom Menschen verursachten Klimawandels auch schon über das Ende dieser Epoche spekuliert.

Philipp Löhle ist kein Experte für Geochronologie, aber ein aufmerksamer Beobachter aktueller Diskussionen und gleichzeitig einer der originellsten deutschsprachigen Stückeschreiber; jemand, der es schafft, aus einem Stück verpacktem Tofu ein leckeres Dreigang-Gourmet-Menü zu zaubern, jemand, der es kann, eine zunächst sehr theoretisch erscheinende Thematik in eine lebendige Theater-Erzählung umzusetzen.

Als Hausautor des Staatstheaters Nürnberg (seit 2018) hat er dieses Stück verfasst, das nun in der Regie von Intendant Jens-Daniel Herzog seine deutsche Uraufführung erfährt. Im Widerspruch zum Titel hat der Text eigentlich keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende, sondern wirkt wie eine russische Matrjoschka-Puppe, die man dreimal aufdecken kann, um dann wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Drei Erzählebenen und drei Zeitebenen können geöffnet werden, und alle haben eine innere Verknüpfung und ein gemeinsames Leitthema: es geht jeweils um eine kleine Gruppe von Menschen, die nach einem privaten oder gesellschaftlichen Ausweg suchen.

In der vollautomatisierten Zukunftsebene, die an Motive der Dystopien „1984“ oder „Fahrenheit 451“ erinnert, werden ein Mann und eine Frau - sie heißen Nummer 27 und Nummer 42 - in einer Art Zeugungslabor interniert, damit sie im Rahmen des World Stupidity Programs („Wir werden immer dümmer“) intelligenten Nachwuchs produzieren sollen. 27 und 42 zeichnen sich nämlich durch Lesekompetenz (von Kochbüchern!) und halbwegs intelligente Denkfähigkeit aus.

Auf der Flucht aus dieser Zeugungs-Diktatur erinnert sich Nummer 42 an ihren US-amerikanischen Onkel John, der nach einigen Schicksalsschlägen das kulturell abgeschlossene Urvolk der Sentinelesen aufsuchen wollte, weil er dort vielleicht ohne falsche Sprache und ohne falsche Begriffe weiterleben könnte. Die „Kannibalen“ halten aber nichts von Fremden, schießen Pfeile auf ihn ab und stecken ihn einen heißen Kochtopf, der auf der Bühne allerdings mehr wie ein Whirlpool in einem Wellness-Hotel ausschaut.

Auf der dritten Ebene erleben wir Svantje Plunder und ihren Freund Taivo Tamm, die Johns Sohn überfahren und Fahrerflucht begangen haben. Im Auftrag der UN („World Safety Program“) konzipieren sie eine Methode, um den Atommüll im Weltall zu entsorgen und damit die Welt wenigstens von einem Risiko zu befreien. Die clevere Idee endet jedoch in einer Katastrophe: es regnet Farbe und der weltweite GAU wirkt wie ein apokalyptisches Kunstwerk. Die Menschheit lebt trotzdem irgendwie weiter, nur Mastermind Taivo wird später von einem Windrad-Rotor erschlagen und Svantje trauert um ihn an der Unfallstelle.

Löhles Schlau-Stück erfordert viel assoziatives Mitdenken, entschädigt aber durch punktgenaue satirische Dialoge und grelle Situationskomik. Die Nürnberger Premiere war wirklich ein Freitagabend for future, eine unterhaltsame Denkwerkstatt, ein subtiler Druck auf den Alarmknopf und eine satte Portion zupackendes Gegenwartstheater mit vielen Fragezeichen.

Mitschuld an diesem Erfolg ist das sechsköpfige Ensemble in 17 Rollen, allen voran die zierlich-hysterische Pauline Kästner und der tapsig-grobschlächtige Felix Mühlen. Intendant Jens-Daniel Herzog beweist in seiner ersten Regiearbeit für das Sprechtheater einen guten Blick für richtiges Timing, für funktionale Bühnenkonstruktion (Mathis Neidhart) und eindrucksvolle Videosequenzen (Karolin Killing). Die Befürchtung, dass der Mensch - im Gegensatz zu den Tieren - dumm ist und immer dümmer wird, trifft zumindest auf diese Produktion nicht zu.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/anfang-und-ende-des-anthropozaens-ua/23-11-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Wolken.Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) /

Das schweigende Mädchen    ****

von Elfriede Jelinek

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 22.10.2021

 

Das ist das Haus Deutschland mit Blick auf die letzten 200 Jahre: im Keller lagern trotz sauberer Verputzarbeiten ein paar streng riechende Leichen, im Erdgeschoß befindet sich viel problematischer Restmüll und im Dach huldigen ein paar Dichter und Denker wolkigen deutschnationalen Idealen. Das ist auch die gleichzeitig geniale und diskussionswürdige Inszenierungs-Konzeption, mit der Jan Philipp Gloger drei Theatertexte von Elfriede Jelinek zusammenspannt und einen sehenswerten Beitrag zum bundesweiten Theaterprojekt „Kein! Schlussstrich“ abliefert.

„Wolken.Heim.“, eine Zitatencollage aus idealistischer Philosophie (Fichte bis Heidegger) und deutschsprachiger Dichtung (Hölderlin bis Kleist), entstand schon 1988 und bildet den kurzweiligen Prolog des Theaterabends. Das achtköpfige Ensemble entert in Alltagskleidung, mit Germanen-Rüstung, Loreley-Perücke und Heidegger-Tracht die Bühne und sucht sich Sprechplätze auf der schiefen Ebene des Daches. Die ideologiekritische Botschaft lautet: Wer von „Heimat“ und „Wir“-Gefühl fabuliert, decouvriert - wie in Max Frischs „Andorra“ - immer das Andere und bereitet den Boden für nationalistische und rassistische Identitätspolitik.

„Rechnitz (Der Würgeengel)“, mit dem die Nobelpreisträgerin schon 2009 den Mühlheimer Dramatikerpreis gewann, ist ein Boten- oder Kellnerbericht über ein Massaker an etwa 180 jüdischen Zwangsarbeitern, das Ende März 1945 in dem kleinen burgenländischen Ort Rechnitz anlässlich einer Feier im Schloss der Gräfin von Batthyany stattfand. Vor der Bühnen-Feuerschutzwand herrscht ein reges Treiben der Kellnerschar, die aber über das Geschehen eher schweigen als reden - ganz wie die Dorfbewohner nach 1945. Die Gräfin konnte unbehelligt in die Schweiz ausreisen, wo sie sich - blendend weiß gewaschen - in eine Art Wellness-Oase mit der Aufschrift „RUHE“ zurückzieht. Wer der Wut über solche Vorgänge nachspüren will, sollte einmal zum Vergleich Miroslav Krlezas Roman „Ohne mich“ (1938) nachlesen.

Der dritte Teil - uraufgeführt 2014 an den Kammerspielen München - springt in die unmittelbare Gegenwart des NSU-Terrors, wo 2013 die prozessuale Aufarbeitung der zehn Morde begann, wo die noch lebende Angeklagte Beate Zschäpe als „schweigendes Mädchen“ agierte und 2018 die Urteile gefällt wurde. Vor den verbrannten Resten der konspirativen Wohnung in Zwickau wagt die Inszenierung einen Drahtseilakt zwischen schrägem Klamauk und kritischer Betroffenheit. Ob die Transformation des Münchner Oberlandesgerichts in ein schrulliges Königlich Bayerisches Amtsgericht (mit dem Richter Amadeus Köhli) dem Thema dient, muss jeder für sich entscheiden. Die Gespräche der Tatort-Reiniger und der skurrile Dialog der beiden Katzen von Frau Zschäpe darf als Belebung von Jelineks ansonsten sehr voluminösen Textflächen vermerkt werden. Viel überzeugender ist da die TV-Show mit Moderatorin Lisa Mies, in der die die Fehleinschätzungen von Strafverfolgungsbehörden und seriöser (!) Presse verdeutlicht werden. Am Schluss schwebt die grandiose Annette Büschelberger als schwarzer Rachengel Elfriede über dem vervollständigten Haus und gibt die Parole aus „Wir müssen reden!“ - und nicht schweigen oder einen Schlussstrich ziehen!

Langanhaltender berechtigter Beifall für die spielfreudigen Schauspieler, für ein überzeugendes Bühnenbild (Marie Roth), für die große dramaturgische Leistung von Brigitte Ostermann und Regisseur Jan Philipp Gloger sowie für die Video-Recherchen von Martin Fürbringer

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/wolken-heim-rechnitz-der-wuergeengel-das-schweigende-maedchen/06-11-2021/1830


Foto: Kponrad Fersterer
Foto: Kponrad Fersterer

Spiel der Illusionen (L’illusion comique)    ***

von Pierre Corneille

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 1.10.2021

 

Neue Spielzeit - neues Glück? Mit viel Optimismus geht Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger in die Saison 2021/22 und hat für den Anfang etwas spielerisch Leichtes ausgesucht, ein Plädoyer für die sinnliche Kraft des Theaters. Das Schauspielhaus ist wieder voll mit erwartungsfrohen MaskenträgerInnen, auf der Bühne entfaltet sich ein Kessel buntes Drehen und Treiben, ein gereimtes (nicht immer gut verständliches) Sprachfeuerwerk im Rahmen einer fast 400 Jahre alten Spielvorlage, die viel Platz lässt für exaltiertes Agieren und für magische Momente. Pierre Corneilles gehobene Komödie ist phantasievolles Theater im Theater, allerdings nicht so zupackend wie die Komödien von Shakespeare und schon gar nicht so analytisch wie Goethes Wilhelm Meister und dessen theatralische Sendung.

Man kann sich wohl darauf einigen, dass der Inhalt in all seinen Facetten und in seiner Gratwanderung zwischen Realität und theatralischer Illusion gar nicht so wichtig ist, dass stattdessen die SchauspielerInnen und einige Aspekte der Inszenierung in Erinnerung bleiben werden. Das Ensemble setzt sich mit Verve in Szene, verdeutlich aber gleichzeitig einen Generationenwechsel am Nürnberger Theater. Während die Kammerschauspieler Hochstrasser, Nunner und Cüppers eher beobachtende Randfiguren mit netten kleinen Standbildern sind, rocken die „Jungen“ den Abend. Allen voran Llewellyn Reichmann, die als Dienerin Lyse für rhythmische Sprach- und Sportgymnastik und für querflötende Einlagen Szenenbeifall einsammelt. Ebenso spielfreudig Yascha Finn Nolting als prahlerischer Tölpel Matamore, Justus Pfannkuch als eiskalt-charmanter Liebhaber Clindor und Felix Mühlen mit einem extravaganten Rollen-Triell. Bei der Isabella von Pauline Kästner scheint wieder ein bisschen Tragödie in das rot ausgeschlagene Zirkuszelt - Nora und Antigone lassen grüßen!

Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg weiß mit seiner Erfahrung, wie man szenische Akzente setzt und wie man eine Bühne am Rotieren hält, hat mit den Kostümen von Andrea Schraad einen weiteren Hingucker, hätte aber bei der Textfassung ruhig noch ein paar Striche anbringen können. Am Schluss sind sich Publikum und Akteure einig: das Theater ist wieder da, live und mittendrin, vielleicht auch bald wieder als Ort der entspannten Pausen-Plauderei und des Hinterher-Schoppens.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/spiel-der-illusionen/09-10-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Saal 600: Spurensuche (UA)   ****

von dura & kroesinger

Regie: Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura

Staatstheater Nürnberg (Justizpalast Nürnberg, Saal 600)

Premiere am  25.09.2021

 

Zwei Schauplätze sind es, die den historisch interessierten Touristen in Nürnberg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einladen: zum einen das Reichsparteitagsgelände, auf dem auch 1935 die Rassengesetze verkündet wurden, zum anderen der Justizpalast in der Fürther Straße, in dem vor über 70 Jahren (genau: am 20.11.1945) der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof eröffnet wurde. Beide Erinnerungsorte beherbergen jeweils ein sehenswertes Museum: das Dokumentationszentrum und das Memorium Nürnberger Prozesse. Und mittlerweile kann auch das Staatstheater Nürnberg behaupten, mit je einer szenischen Arbeit diese externen Denkmäler bespielt zu haben. War es 2009 Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ (Inszenierung: Kathrin Mädler) als beeindruckender Gang durch die rohen Backsteingewölbe der Kongresshalle, so ist es nun ein weitgehend stimmiges Doku-Projekt von Regina Dura und Hans-Werner Kroesinger im Saal 600, in dem zwischen 1960 und 2020 ganz alltägliche Gerichtsverhandlungen stattgefunden haben, der aber jetzt in das Memorium-Konzept eingebunden wurde.

Die theatralische „Spurensuche“ mit fünf Anfängen muss mit einigen konzeptionellen Fragen umgehen. Wie lässt sich das unüberschaubare historische Quellenmaterial auf eine vorgegebene Spielzeit von etwa 90 Minuten eindampfen? dura & kroesinger (so der Markenname) entscheiden sich im Wesentlichen für eine exemplarische Perspektive, die aus den Aussagen dreier Prozessbeteiligter entsteht: Hermann Görings Vernehmung am 18.3.1946, bei der er sehr erhellend die Reichskristallnacht als Versicherungsproblem thematisiert, der bewegende Bericht der französischen Auschwitz-Insassin Marie-Claude Vaillant-Couturier und die nüchterne Bilanz des SS-Einsatzgruppenleiters Otto Ohlendorf über die Massenerschießungen an der Ostfront. Danach braucht man „keine weiteren Fragen“. Damit ist aber auch angedeutet, dass bei dieser nachdenklichen Aufführung die juristische Problematik der Nürnberger Prozesse nicht verhandelt werden kann.

Die zweite Frage zielt darauf, wie stark man an einem solch ernsthaften Ort theatralische Elemente einbinden darf/soll. Die Inszenierung schafft einen nicht scharf abgegrenzten Bühnenraum im historischen Raum (gestaltet von Rob Moonen). Vor einer funktionalen Videowand werden zwanzig helle Sperrholzwürfel unterschiedlich als Deko-Element, Sitzgelegenheit oder Redepulte arrangiert, viele weiße Papierstapel werden im Saal verteilt, aufgetürmt, zum Einsturz gebracht oder in die Luft geworfen. Das fünfköpfige Ensemble (Anna Klimovitskaya, Stephanie Leue, Adeline Schebesch, Nicolas Frederic Djuren, Janning Kahnert) bewegt sich trotz deklamatorischer Hauptarbeit in spätsommerlicher Alltagskleidung, legt Trinkpausen ein und verdeutlicht die mehrsprachige Atmosphäre des historischen Prozesses.

Das, was Theatermacher gerne ihrem Publikum wünschen (einen „spannenden“ Abend), wird im letzten Drittel eingelöst. Dann schlüpfen die Akteure aus ihren Sprechrollen und artikulieren eigene private Erinnerungsfetzen an die NS-Zeit. Dann befasst sich die Inszenierung kritisch mit den Misserfolgen der weiteren Entnazifizierung nach 1949 und illustriert in bestem Brechtschen Sinne („Der Schoß ist fruchtbar noch …“) durch einen langen Lauftext an der Videowand die ungebrochene rechtsradikale Tradition in Deutschland.

Bei den Nürnberger Prozessen hat man 1945 in dem erstaunlicherweise fast unzerstörten Justizpalast Platz für knapp 400 Pressevertreter und sonstige Besucher geschaffen, bei der „Spurensuche“ 2021 erlaubt die implantierte Stahlrohrtribüne leider nur Sitzplätze für 50 Personen. Dafür wird die sehenswerte Produktion in mehreren Blöcken über die gesamte Spielzeit gezeigt. Sie ist garantiert mehr als nur ein touristischer Tipp, sie ist ein historischer Moment.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/saal-600-spurensuche-ua/27-09-2021/1700


Was ihr wollt   ***

von William Shakespeare

Regie: Markus Nondorf

Theater im Kulturkammergut Fürth

Premiere am 29.7.2021

 

Rechtzeitig zu Beginn der bayerischen Sommerferien hat das Zwillings-Geschwisterpaar Viola und Sebastian (Anna Botzenhardt und Alec Wagner) Abiturzeugnis und Schnelltest eingepackt und eine Kreuzfahrt in den sonnigen Süden gestartet. Weil aber der Vergnügungsdampfer in Seenot gerät, müssen sie sich als Schiffbrüchige an die Küste des Fantasialandes Illyrien (liegt irgendwo zwischen Mallorca und Tauris?) retten und verlieren sich dabei aus den Augen. Auf dem Überraschungs-Eiland regiert der liebestolle Herzog Orsino (Michael Nowak), dessen Avancen von der coolen Gräfin Orsina (Varvara Imas) nur mit lasziven Hüftschwüngen und einem Trauerschleier kommentiert werden. Viola schlüpft auf Arbeitssuche in dreiviertellange Lederhosen, setzt sich eine Schieber-Kappe auf und mutiert zum Transgender-Cesario. Damit eröffnet er/sie ein unübersichtliches Bermuda-Dreieck der Irrungen und Wirrungen, der Eifersucht und der Verwechslungen.

So ungefähr hat William Shakespeare 1602 seine bis heute unkaputtbare Komödie „Was ihr wollt“ angelegt, die nun das Theater aus dem KulturKammerGut in der Freilichtbühne im Fürther Stadtpark an neun Abenden präsentiert. Regisseur Markus Nondorf ließ das Stahlrohrbühnengerüst mit schwarzen, roten und goldenen Tüchern verhüllen und verordnete den schwarz-weiß gekleideten Akteuren ein bisschen Charleston-Atmosphäre aus dem Berlin der goldenen Zwanziger. Die fünfköpfige Bühnenband - angeführt vom Posaunisten Heinrich Filsner - intoniert zeitgerecht „Yes sir, that’s my baby“ oder „O mein Papa war eine wunderbare Clown“ und unterstützt das Ensemble bei den wüsten Gesängen von „Halt‘s Maul, du Arsch“ bis „Love is a losing game“.

Die wirkliche Party geht aber bei den Rüpel-Szenen der Nebenfiguren ab: Sir Toby Rülp (Frank Strobelt) lässt keine Sektflasche ungeöffnet im Kübel und macht seinem Nachnamen alle Ehre. Sir Andrew Bleichenwang (Ralf Ahlborn) ist bei allen Intrigen mannhaft dabei, verliert aber beim geforderten Duell mit zwei grünen Regenschirmen etwas die Courage. Haushofmeister Malvolio (Oliver Reissig) wird zum Opfer eines Fake-Liebesbriefes von der Gräfin, er macht sich mit gelben Strümpfen und kreuzförmigen Strumpfbändern zum Affen und damit zur einzigen halbwegs tragischen Figur des Abends. Die Lieder des Narren Feste, der hier als weiblicher Clown auftreten darf (Andrea Gerhard), umrahmen einen schwungvollen Theaterabend im stimmungsvollen Ambiente trotz harter Sitzbänke, Abstands-Gebot und Stechmücken-Alarm.

Zum Schluss singen alle „Der Regen regnet jeden Tag“, was man der Produktion, die bis zum 6. August jeden Tag stattfinden soll, nicht wünscht. Langer Beifall des Publikums, unter das sich auch Textbearbeiter Oliver Karbus gemischt hatte.

 

http://tkkg-buehne-fuerth.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Stolz und Vorurteil* (*oder so) ****

von Isobel McArthur nach dem Roman von Jane Austen

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Sommerbühne)

Premiere am 23.06.2021

 

Das ist aber jetzt echt mal ein Fall für den Gleichstellungsbeauftragten des Staatstheaters Nürnberg: bei den beiden ersten Schauspiel-Live-Premieren im Jahre 2021 („Kluge Gefühle“ in den Kammerspielen und „Stolz und Vorurteil“ auf der Sommerbühne) agierten im Scheinwerferlicht acht Schauspielerinnen (ohne Binnen-I!), die zusammen insgesamt 24 Rollen (davon fünf männliche) verkörperten. Für die Herren des Ensembles blieb nur noch die Aufgabe eines Regisseurs (Christian Brey), eines dezenten Gitarren-Musikers (Thomas Esser) und eines hocherfreuten Ansagers (Jan Philipp Gloger) übrig.

Da wir aber wissen, dass Iro nie gut ankommt, zurück zu den Fakten des zweiten Premierenabends. Vor dem Schauspielhaus wurde auf der kahlen Pflaster-Wüste eine wuchtige Bühne mit perfekter Licht- und Ton-Ausstattung gebaut, davor finden sich locker gestellte Zweier-Stuhlgruppen mit Beistelltischchen für etwa 120 Zuschauer, die in der frischen Luft sogar die Masken während der Vorführung abnehmen dürfen. Der emsige Gastro-Service liefert in der Pause vorbestellte Getränke und Imbisse an den Platz. Wenn dann noch das Wetter mitspielt (am Eröffnungstermin regnete es nur 25 Tropfen in fünf Minuten), ist ein entspannter Abend garantiert.

Dazu wählte die Direktion als Mittel gegen die allgemeine Corona-Depression ein sehr leichtgewichtiges und unterhaltsames Stück aus. Es stammt von der schottischen Autorin Isobel Mc Arthur und ist eine absolut schräge Dramatisierung des Roman-Klassikers „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen. „Pride And Prejudice“, die Geschichte der Familie Bennet mit ihren fünf unverheirateten Töchtern Elizabeth, Jane, Lydia, Mary und Kitty, gehört zum Kanon der anglo-amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ein Gesellschaftsroman, der gehobene Unterhaltung mit bürgerlicher Adelskritik und moralischer Erbauung verbindet und dank seiner geschliffenen Dialoge leicht für die Bühne eingerichtet werden kann. Isobel McArthur ging ohne Respekt an dieses Werk und machte 2019 einen zündenden Theaterjux daraus.

Die Nürnberger Inszenierung lebt von geballter komödiantische Frauenpower, allen voran die herrlich verpeilte Annette Büschelberger und die schrille Julia Bartolome, von einem temporeichen Umkleide-Karussell, von netten, kleinen Regier-Einfällen und von erfrischend unperfekt vorgetragenen Pop-Songs wie „I Got You Babe“, „You’re So Vain“ oder „Lady In Red“. Farbenprächtige Blumen-Rankbögen schmücken die Bühne (Anette Hachmann), am Ende bekommen die Besucher sogar einen Blumengruß als Dank für die Treue zum Staatstheater: ein bisschen Hippie-Flower-Power und „Love Is In The Air“ schwebt über dem urbanen Asphalt. Ansonsten sagt der letzte Song alles zum Thema: „Da da da, ich lieb' dich nicht, du liebst mich nicht!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/stolz-und-vorurteil-oder-so/25-06-2021/1900


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Kluge Gefühle      ***

von Maryam Zaree

Regie: Mirjam Loibl

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 22.6.2021

 

Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern zu deren Vergangenheit ausfragen, stoßen sie oft auf eine Mauer des Schweigens. Das ging der Generation so, die nach 1945 in der Bundesrepublik geboren wurde, das erlebte die Nachwendegeneration in der ehemaligen DDR. David Grossman machte aus diesem Motiv einen bewegenden Roman („Was Nina wusste“), in dem die Bewältigung der Vergangenheit im Tito-Jugoslawien zu einem harten Mutter-Tochter-Konflikt führt. Maryam Zaree - vielen eher als Schauspielerin bekannt - hat die Umstände ihrer Geburt 1983 in Teheran erst etwa dreißig Jahre später erfahren und aus diesem dramatischen Geschehen ein multimediales Projekt gestaltet: 2017 stellte sie ihren stark autobiografisch eingefärbten Theatertext „Kluge Gefühle“ auf dem Heidelberger Stückemarkt vor und gewann den Autorenpreis, ein Jahr später kam es zur Uraufführung in Heidelberg und zu einer Folgeproduktion in Berlin (Hebbel am Ufer). 2019 führte sie Regie in dem Dokumentarfilm „Born in Evin“, der die Zustände in dem Teheraner Gefängnis nach der islamistischen Revolution unter Chomeini aufarbeitet. „Kluge Gefühle“ ist nun die erste - thematisch völlig coronafreie - Live-Premiere 2021 im Nürnberger Schauspiel.

Tara, die junge Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet Asylrecht (Süheyla Ünlü) lebt als Single in Deutschland, fürsorglich belagert von ihrer Mutter Shahla (Stephanie Leue). Selbst bei ihrer Psychoanalytikerin (Pauline Kästner) öffnet sie sich nur mit angezogener Handbremse. Was ist der Grund für ihre Verunsicherungen? Ist sie zu klug, um Gefühle zu zeigen? Durch Zufall erfährt sie von dem Iran-Tribunal 2012 in Den Haag, wo ihre Mutter als Zeugin ausgesagt hatte: sie war als Oppositionelle eingesperrt und misshandelt worden und hat im Gefängnis „mit verbundenen Augen“ die Tochter zur Welt gebracht. Doch sie wollte das Kind im neuen Land schützen, ihr eine Zukunft frei von dem Grauen des Vergangenen ermöglichen.

Diese Spannung versucht Maryam Zaree immer wieder durch Anflüge von Ironie aufzulockern, manchmal erscheint Tara wie ein weiblicher Woody Allen, wie ein Musterbeispiel für misslingende Kommunikation in den Zeiten der Verdrängung und des Jargons der Eigentlichkeit. Der Schwebezustand zwischen flapsiger Partner-Suche, bockigem Frage-Antwort-Spiel auf der Psycho-Couch und der dramatischen Wiedererkennung der mütterlichen Tragödie kann nicht durchgehend überzeugen, da auch die Inszenierung von Mirjam Loibl sehr zurückhaltend und minimalistisch vorgeht. Die karge Bühne mit einer verschiebbaren Projektionswand (Thilo Ullrich) bietet wenig originellen Spielraum, Licht und Musik setzen kaum Akzente. Die drei Schauspielerinnen verlassen sich eher auf das gesprochene Wort als auf deutliche und deutende Körpersprache. Das Ergebnis ist ein nachdenklich stimmendes Kammerspiel, dem aber der große Zugriff auf das Thema nicht recht gelingen will.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/kluge-gefuehle/25-06-2021/1930


Foto: Sebastian Worch
Foto: Sebastian Worch

Der Schimmelreiter    ***

von Theodor Storm

für die Bühne eingerichtet von Christian Schidlowsky

Regie: Christian Schidlowsky

Gastspiel des Theaters Schloss Maßbach im Stadttheater Fürth (17.6.2021)

 

„Treffen sich sechs Nordfriesen in einer Bar …“. So könnte ein lauer Witz beginnen - oder die theatralische Umsetzung der bekannten Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Christian Schidlowsky, in der Region als Gründer des Theaters Pfütze bekannt, hat den 1888 erschienenen Prosatext für die Bühne eingerichtet und vor einem Jahr mit dem Ensemble des unterfränkischen Theaters Schloss Maßbach zur Aufführung gebracht. Jedoch nur für kurze Zeit, denn bald nach der Premiere regierte der kulturelle Lockdown und erst die frühsommerlichen Inzi­denzwerte 2021 erlauben eine Wiederaufnahme, die nun auch zweimal im Stadttheater Fürth gezeigt wurde.

Storms dramatisches Schauermärchen erzählt die Geschichte des jungen Hauke Haien, der an der Nordseeküste des 18. Jahrhunderts eine Karriere vom Kleinknecht zum Deichgrafen durchläuft, mit seinen ambitionierten und aufgeklärten Deichbauprojekten aber immer wieder auf Widerstand bei den Alteingesessenen stößt. Anders als der gealterte Faust, der am Ende seines Lebens als Landgewinner auf ein „paradiesisch Land“ und eine „kühn-emsige Völkerschaft“ schauen kann, der die Flut draußen keine Angst mehr macht, erlebt Hauke bei einer Sturmflut die Unberechenbarkeit der Natur und eine private Katastrophe. Seitdem geistert er als apokalyptischer Schimmelreiter durch die norddeutsche Volkssage.

Man könnte diesem Stoff eine Menge Aktualität abgewinnen: mit dem Klimawandel steigen die Meerespegel, Plastik-Kontinente schwimmen im Ozean und in vielen Bürgerbegehren werden ehrgeizige Großprojekte abgelehnt. Christian Schidlowsky verkneift sich aber diese Modernismen, er verlässt sich auf den thematischen Kern der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft, Humanität und Aberglaube und lässt seine Schauspieler in Dialog und Erzähler-Chor das Geschehen trans­portieren. Das funktionelle Container-Bühnenbild von Peter Picciani mutiert von der Bar zum flachen Deich, und im Hintergrund rauscht in wechselnder Lautstärke die Nord/Mordsee. Mit einer abwechslungsreichen Sprech-Choreografie und vereinzelten Gesangseinsätzen spielen sich die Schauspieler Wollmützen, Sandsäcke und Angora-Felle zu. Benjamin Jorns gibt der Hauptperson jugendliche Dynamik, aber auch punktuelle Selbstzweifel, Anna Schindlbeck ist die standhafte Ehefrau Elke, die das Glück der kleinen Familie verteidigen will. Georg Schmiechen kann als hinterlistiger Gegenspieler Ole Peters Züge des aktuellen Populismus verkörpern.

So entwickelt die realistische Storm-Warnung trotz vereinzelter Durchhänger einen gewissen Sog - fast wie der gefährliche Priel, der am Ende den Deich unterhöhlt hat. Schade nur, dass angesichts der Ü-30-Temperaturen das lange vermisste Live-Erlebnis im Theater nur von einer sehr überschaubaren Besucherschar wahrgenommen wurde: Biergarten statt Deich-Bar!

 

https://www.theater-massbach.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Phädra   ****

von Jean Racine

Regie: Anne Lenk

mit Ulrike Arnold, Maximilian Pulst u. v. a.

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Online-Premiere (auf YouTube) am 23.4.2021

 

Die große deutsche Rollladen-Firma „Roma“ wirbt in ihren Fernseh-Spots mit dem Slogan „Wenn sie mal für sich sein wollen“. Diese Assoziation drängt sich auf, wenn man das Bühnenbild von Judith Oswald als bestimmende Größe des Theaterabends erkennt. Denn sie hat für die Tragödie von Phädra und Hippolyt, einen rechteckigen Guckkasten gebaut, der überall von modernen Lamellen-Jalousien beschattet ist. Und so sind die Akteure wirklich für sich, wenn sie ihre Dilemmata dialogisch austragen. Sie haben natürlich auch keine Live-Zuschauer, sondern nur distanzierte Beobachter am Laptop, die diese eindrucksvolle Online-Verfilmung - die aber ohne nervige filmische Mittel auskommt und sehr oft dokumentarisch die Bühnen-Totale anbietet - verfolgen. Das karge Mobiliar hat Office-Charakter mit Edelstahl und Leder: ein Schreibtisch (mit Tasten-Telefon!), eine therapeutische (?) Liege und für alle Trauer-Fälle einen Kosmetiktuch-Spender.

Der mythische Stoff des Euripides, den Racine 1677 in die französische Klassik transportiert hat, ist im Grunde eine Variation des Ödipus-Motivs. Phädra, die zweite Gemahlin des Theseus, entdeckt ihre verbotene Liebe zu dem Stiefsohn Hippolyt und wagt es, als eine fälschliche Todesmeldung ihres Mannes eintrifft, sich vor dem jungen Mann zu outen. Dieser aber liebt vermutlich die am Hof festgehaltene athenische Prinzessin Aricia. Als Theseus doch lebend nach Hause kommt („mein Empfang ist Entsetzen“), entwirft die intrigante Amme Oenone für Phädra eine Ausrede: der Stiefsohn sei die Triebkraft dieser Annäherung gewesen. Damit nimmt die tragische Talfahrt ihren Lauf: Hippolyt wird vom Gott Poseidon in den Tod gerissen, die Amme stürzt sich schuldbewusst aus dem Fenster und Phädra greift zum Gift: „Der Tod / raubt meinem Aug das Licht und gibt dem Tag, / den ich befleckte, seinen Glanz zurück“.

Hausregisseurin Anne Lenk, die schon zweimal mit ihren Arbeiten zum Berliner Theatertreffen eingeladen war (leider noch nie mit einer Nürnberger Produktion), gibt dem Stück eine bemerkenswerte Spannung zwischen Moderne und Tradition. Einerseits wählt sie die klassische Schiller-Übersetzung, andererseits versetzt sie die Rollen ins Jetzt und lässt sie wie Personen aus dem heutigen Politikbetrieb erscheinen. Die Phädra der wunderbaren Ulrike Arnold ist ein bisschen eine Mischung aus Hannelore Kohl und Brigitte Macron, ein Charakter zwischen Licht und Schatten, zwischen Empathie und Staatsräson, zwischen weiblicher Emotion und hündischer Geste. Ihr elfenbeinfarbenes Lederkostüm (gefertigt von Sibylle Wallum) und die blonde Sturm-Perücke wirken wie ein corona-typisches Distanz-Signal, wie ein Panzer, hinter dem sich der wahre Mensch versteckt. Sie ist - wie es schon Racine deutete - eine tragische Person „weder völlig schuldig noch gänzlich frei von Schuld“.

Ähnlich der Hippolyt von Maximilian Pulst: mit gymnastischen Bewegungen und mit der Glätte eines Lederanzug-Yuppies kaschiert er seine Unsicherheit zwischen den beiden Frauen. Die selbst auf dem Computerbildschirm erkennbare Ensembleleistung wird abgerundet durch den schnauzbärtigen Theseus von Michael Hochstrasser, die Oenone von Julia Bartolome, die Aricia von Llewelyn Reichman und den aalglatten Erzieher Theramen von Nicolas Frederick Djuren.

Wir können uns im anschließenden Online-Chat auf das Fazit einigen „schwache Menschen sind wir alle“, schalten den PC ab und ziehen kontaktdurstig die Jalousien wieder hoch! Große Empfehlung für einen Besuch der Live-Aufführung - wann auch immer!

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/phaedra/23-04-2021/1930


Macbeth **

von William Shakespeare

Kurznachrichtentheater

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg

Online auf Telegram am 12.3.2021

 

What’s up, Macbeth? Wie geht’s dir machtgeilem Autokraten? Die twittergerechte Antwort in sechs Wörtern lautet „Für Macht geh ich über Leichen!“ oder etwas später „An mir geh ich bald zugrunde!“

Not macht erfinderisch, und so hat ein Team um den Nürnberger Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger die Königstragödie aus dem frühen 17. Jahrhundert in ein Kurznachrichtentheater auf dem Messengerdienst Telegram verwandelt. Etwa 600 Chat-Mitglieder sitzen also am Freitagabend zu Hause vor dem MacBook Air oder anderen mobilen Endgeräten und beobachten passiv (!), was auf dem Account von MacBeth (dahinter verbirgt sich der Schauspieler Justus Pfankuch) so alles gepostet wird. In gut 100 Minuten ploppen dann zahllose Textnachrichten, animierte Emojis, 32 Bilder, 28 Audio-Sprachnachrichten, acht Videos und mehrere Links zu YouTube-Videos auf, die Macbeths Weg vom loyalen Feldherrn zum Königsmörder, zum Serienverbrecher und schließlich zum im Wahn Gerichteten nacherzählen. Das ist zwar technisch auf der Höhe der Zeit, jedoch rezeptiv eher anstrengend und emotional eine blanke Distanz-Katastrophe. Wer die Macbeth-Geschichte nicht vorher im Schauspielführer gelesen (oder natürlich online gegoogelt) hat, versteht nur noch Bahnhof oder - wie man heute wohl sagt - Datenserver.

Der Zuschauer ist ausgiebig beschäftigt, Hintergrundmusik (von Vera Mohrs) downzuloaden, Sprachnachrichten abzuhören und YouTube-Links rechtzeitig zu starten. Letztere und ein paar vorproduzierte Videos sind es dann, die für ein paar Momente entspanntes Zuschauen ermöglichen: zum Beispiel Maximilian Pulsts sächsisch-kabarettistische Version der Pförtnerszene, Macbeths Ausraster bei einem Festbankett, an dem auch der Schauspieldirektor teilnimmt, Lady Macbeth (Lisa Mies), die sich in einem blütenweißen Damenklo auskotzt, und eingestreute Pressekonferenz mit der Moderatorin Adeline Schebesch.

Irgendwann kommt aber der Moment, wo man mit Macbeth aufschreit „Ich will nichts weiter sehn und hören“ und sich nur noch auf das finale Fazit freut: „Das Leben ist ein schneller Schatten, ein Märchen von einem Depp erzählt, voll Lärm und Tollwut!“

Bezeichnenderweise empfehlen die Veranstalter, nach dem Abend die Telegram-App wieder zu löschen, denn sie wissen um die Fragwürdigkeit dieses asozialen Mediums („Die Wahrheit lügt!“), in dem sich vorwiegend anonyme Gewaltphantasten, Verschwörungstheoretiker und Antidemokraten tummeln. Diese Klientel ist immerhin ein passendes Umfeld für die Macbeth-Geschichte, hatte aber wohl zu diesem Zeitpunkt nicht den Macbeth-Account angeklickt.

Wenn dieser Abend wenigstens irgendetwas ausgelöst hat, dann den dringenden Wunsch, dass bald wieder richtiges Theater auf einer richtigen Bühne zu sehen ist.

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/macbeth-ein-kurznachrichtentheater/12-03-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Isola    ****

von Philipp Löhle

Theaterfilm von Sami Bill nach der Inszenierung von Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

YouTube-Premiere am 26.2.2021

 

Die Ursache für die Weltwirtschaftskrise 1929 war eine Überproduktionskrise. Etwas anders verhält es sich heute: die Corona-Pandemie bringt als Folge eine Überproduktionskrise mit sich. Brauereien müssen ihr Bier wegschütten, Wintermode modert an den Kleiderbügeln der Damen- und Herren-Konfektionshäuser und die Theater beklagen einen Premierenstau. Auch das Schauspielensemble des Staatstheaters Nürnberg war während der Lockdown-Phasen nicht untätig und sucht nun nach Wegen, fertige Produktionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Dezember sollte „Isola“, geschrieben von dem Hausautor Philipp Löhle, als Uraufführung im Schauspielhaus starten, nun hat Sami Bill, der in Jan Philipp Glogers Inszenierung für die Video-Installationen verantwortlich ist, einen Theaterfilm gedreht, der - umsonst und zu Hause - seine YouTube-Premiere feierte.

Löhles Stück, das seit April 2020 als Auftragsarbeit des Staatstheaters Nürnberg an der aktuellen Nachrichtenlage gewachsen ist, setzt auf den Verfremdungs-Effekt (allerdings ohne die brechtsche Lehrhaftigkeit) und führt den Zuschauer mit einer Pandemie-Parabel zurück in das Jahr 1838, in das Land der Burgen, der Schlösser und der Kleinstaaterei. Eine skurrile Biedermeier-Festgesellschaft trifft sich in den Räumen des jungen Grafen Wilhelm Friedrich von Munk (Tjark Bernau); doch bald ist von einem (mehreren?) Toten die Rede und von einem Killer (Brandstifter?), der irgendwo draußen vor den Türen sein Unwesen treibt. Man erzählt sich nun aber nicht - wie in Boccaccios „Decamerone“ - gegenseitig Novellen, sondern spricht von etwas Fremdem, auf das man schon lange gewartet habe. Der Totengräber (Raphael Rubino) bringt den ersten Sarg herein und preist seinen beruflichen Erfolg: „Übersterblichkeit, das ist mein Geschäft“. Die Akteure werden zur geschlossenen Gesellschaft, die sich innerhalb der 14 raumhohen Kassettenwand-Türen (Bühner: Franziska Bornkamm) verschanzen und dennoch ein Wechselbad von Sicherheit und Bedrohung erleben. Abstruse Wendungen und Verschwörungstheorien markieren den dynamischen Zickzack-Kurs der Handlung: Hat der Gastgeber alles nur erfunden, um seine Gäste einsperren zu können? Leben wir einen Traum oder träumen wir unser Leben? Dazu kommt noch der Naturforscher Professor Ambrosius Freudenbach (Maximilian Pulst), der Jugendfreund des Grafen, wieder in die Nähe des Schlosses; auf dem Weg dorthin berichtet er von seinen Schmetterlings-Forschungen, von Unterwasser-Entpuppung und dem Streben nach Licht und Luft. Als er Einlass begehrt, wird er als der mordende Fremde gesehen und mit einem Schürhaken durchbohrt.

Löhle hat also tief in dem Fundus der Schauer-Romantik und der Ikonografie der Zombie- und Horror-Splatter-Filme gewildert, die Figuren wirken, als wären sie einer Novelle von Ludwig Tieck entsprungen, die Handlung erinnert irgendwie an eine Detektiv-Story mit Hercules Poirot (Mord im Schloss?) in der Filmregie von Luis Bunuel oder an einen neuen Edgar-Wallace-Streifen. Letzteres ist aber unzutreffend, weil die Blicke nach außen keinen Londoner Nebel zeigen, dafür die Nürnberger U-Bahn-Station Opernhaus (umbenannt in „Isola“) und einen Elefanten, der nicht das sprichwörtliche Porzellan zertrampelt, sondern die Bestuhlung des Nürnberger Schauspielhauses!

In drei Drehtagen wurde aus der premierenfesten Bühneninszenierung von Jan Philipp Gloger ein schön schauriger Film, der deutlich mehr vermittelt als nur die brave Abfilmung des Bühnengeschehens. Anteil an dieser intensiven Psycho-Massage hat auch die grelle Hintergrundmusik von Kostja Rapoport und die spektakuläre Rollen-Interpretation der jungen Flora durch Annette Büschelberger.

Philipp Löhles brillanter Mix aus Assoziationen, Ahnungen und Anmerkungen zur leidigen C-Frage dauert 100 Minuten, erlaubt den Einsatz der Pausentaste und den Getränke-Nachschub aus dem Home-Cooling. Dennoch darf man sich über Jan Philipp Glogers Ankündigung freuen: „Wir werden / müssen das als Bühnen-Uraufführung zur Premiere im Schauspielhaus bringen!“ Denn wie sagt doch der Graf von Munk am Ende so treffend: „Es ist noch nicht vorüber!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/isola-ua/20-03-2021/1930


Corpus Delicti     ****

von Juli Zeh

Regie: Janning Kahnert

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Live-Stream-Premiere (Online) am 12.2.2021

 

Bei George Orwells „1984“ ist die Sache eigentlich klar: der Roman ist eine Warnung vor den Machterhaltungs-Strategien oligarchisch strukturierter Diktaturen, vor Überwachung und Manipulation der Bevölkerung. Etwas schwieriger liest sich Juli Zehs Dystopie einer Gesundheits-Diktatur aus dem Jahr 2050. Im Kern ist es ein unterhaltsamer Debattenbeitrag zu einer verfassungsrechtlichen Abwägungsfrage: was ist wichtiger - Gesundheit oder Freiheit? Der Roman war ursprünglich als Theaterstück konzipiert, das 2007 uraufgeführt wurde und nun, in den Zeiten der Corona-Pandemie, neue Aktualität gewonnen hat.

Janning Kahnert aus dem Ensemble des Nürnberger Staatstheaters hat die verordnete Passivität im Bühnen-Lockdown genutzt und hat als Regisseur das Projekt einer filmischen Umsetzung mit sieben befreundeten SchauspielerInnen aus Nürnberg, Hamburg, Hannover und Düsseldorf gestartet. Herausgekommen ist eine knappe Stunde YouTube-Video mit dem dezenten Charme einer Zoom-Video-Konferenz. Die Akteure sitzen distanziert im Home-Office vor ihrer Webcam und werden entweder alleine oder in Gruppen auf dem Bildschirm präsentiert. Das passt, weil das Stück Elemente einer Gerichtsverhandlung und zahlreiche inhaltliche Diskurs-Dialoge enthält. Zwei alternative Sequenzen sind mehrfach in den Ablauf eingeschnitten: die Bewegungen von Moritz Holl (Maximilian Pulst) in der freien(!) Natur und die willfährigen Talk-Bemühungen des Moderators Würmer (Nicolas Frederik Djuren) bei seiner TV-Sendung „Was alle denken“.

Die hauptsächlichen Gegenspieler sind die Biologin Mia Holl (Llewellyn Reichman) und Heinrich Kramer, der Vordenker der METHODE (André Kaczmarczyk). Kramer vertritt die These, dass die Erhaltung der Gesundheit der Bürger die zentrale Legitimation staatlicher Gewalt im 21. Jahrhundert sei. Dafür müssen auch drastische Einschnitte bei den aus dem 20. Jahrhundert gewohnten persönlichen Freiheiten hingenommen werden: es gibt z. B. implantierte Überwachungs-Chips, Fitness-Zwang, Rauch- und Alkohol-Verbot. Das müsse doch der „gesunde“, aufgeklärte Menschenverstand akzeptieren! Dagegen ist Mia Holl von ihrem Bruder Moritz beeinflusst, der für Freiheit und Natur kämpft und erklärt, das Leben sei ein Angebot, „das man auch ablehnen kann“. Moritz wird verhaftet und nach einem Justizirrtum verurteilt, in der Zelle begeht er Selbstmord. Dies treibt Mia in die radikale Opposition, in die Nähe einer terroristischen Vereinigung mit dem schönen Kürzel R.A.K. (Recht auf Krankheit). Dann wird auch sie verhaftet und das Urteil in erster Instanz ist eine besondere Form des Kaltstellens (Einfrieren auf unbestimmte Zeit). Doch weil der clevere METHODE-Staat keine Märtyrer produzieren will, wird noch eine Begnadigung ausgesprochen - dies jedoch mit systemkonformen Auflagen!

Normalerweise würde man hinterher bei einer Premierenfeier angeregte Diskussionen mit anderen Theaterbesuchern und einem Glas Wein führen, doch die Pandemie zwingt zu einer personell eingegrenzten Live-Diskussion auf der Bühne der Nürnberger Kammerspiele (moderiert von Dramaturg Fabian Schmidtlein), an der sich neben zwei Experten und dem Regisseur auch die ca. 600 Besucher aus dem Netz (das wäre immerhin ein volles Schauspielhaus gewesen!) chatmäßig beteiligen können. Ob Mia und Moritz Holl heute Querdenker wären, bzw. ob Heinrich Kramer heute im Beratergremium von Angela Merkel sitzen würde, darf gerne kontrovers weitergedacht werden. Schade nur, dass nach dieser anregenden Premiere noch keine Planungen für weitere Aufführungen von „Corpus Delicti“ - sei es auf YouTube oder irgendwann auf der Bühne - erkennbar sind.

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/corpus-delicti/12-02-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Take The Villa And Run   ****

von René Pollesch

Regie: René Pollesch

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 30.10.2020

 

Drei Tage vor dem kulturellen November-Lockdown präsentiert das Staatstheater Nürnberg noch eine spektakuläre Schauspiel-Premiere. René Pollesch, der designierte Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist - angelockt von Direktor Jan Phillip Gloger - nach Franken gekommen, um mit vier SchauspielerInnen (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Yascha Finn Nolting sowie Franz Beil, der Gast aus Berlin) und der örtlichen Dramaturgie eine neues Bühnen-Projekt zu gestalten. „Take The Villa And Run“ heißt der - wie meist enigmatische - Titel für diesen ziemlich ergebnisoffenen Arbeitsprozess; Assoziationen zu dem Woody-Allen-Film „Take The Money And Run“ (1969, dt. „Woody, der Unglücksrabe“) oder zu dem gleichnamigen Song der Steve Miller Band aus dem Jahr 1976 mögen erlaubt sein. Eigentlich aber bezieht sich Pollesch auf eine Ikone der Modelleisenbahn-Zeit, auf den Faller-Bausatz „Villa im Tessin“, den es ab 1961 mit 106 Einzelteilen und einer Bauanleitung zu kaufen gab. Denn dieses Symbol des Besitzbürgertums in der späten Wirtschaftswunderzeit ist Vorbild für das Bühnenbild, mit dem Nina von Mechow den Rahmen für ein kunterbuntes Geschehen schafft.

Zunächst ist aber, als Süheyla Ünlü im wehenden Satin-Morgenmantel die Bühne betritt, diese groß und leer und die titelgebende Villa bis auf den Grundriss verschwunden. Hat etwa jemand, der einbrechen wollte, in Brechtscher Dialektik gleich die ganze Villa geklaut? Ist dieser Jemand vielleicht der 14köpfige Jungmädchen-Chor, der bald den Raum bevölkert und gestylt wie New-Mexiko-Cowgirls aus einem Italo-Western in die Debatte eingreift. Die Chor-Truppe - darunter auch das heuer leider arbeitslose Nürnberger Christkind Benigna Munsi - versteht sich allerdings nicht als Kommentator in der antiken Tradition sondern als vielköpfiger Einzel-Akteur, der das dramaturgische Ideal der Rollendistanzierung und Rollendifferenzierung vorführt. Er kann gleichzeitig stehen und liegen, er kann nach rechts vorne und nach links hinten gehen, er kann in die Figur eines Museumsführers oder eines enttäuschten Liebhabers schlüpfen, er kann die ästhetischen Rituale des Mannschaftssports vorführen oder auch mal ganz banal eine Karaoke-Version von dem Rolling-Stones-Hit „As Tears Go By“ vorsingen („It is the evening of the day / I sit and watch the children play“). Vor allem aber kann der Chor aus den bereitstehenden Einzelteilen die Villa wieder aufbauen und mit dieser Heimwerker-Montage die Arbeitsweise des Dramatikers und Regisseurs Pollesch verdeutlichen.

Dieser füttert sein Ensemble in der Probenzeit mit vielfältigen Textbausteinen, die dann - wenn denn alles funktioniert - am Ende ein irgendwie anregendes und möglicherweise stimmiges Gesamtbild ergeben. Der auch in der Aufführung gesprochene Leitsatz lautet „eben ging mir gerade was durch den Kopf“, erinnernd an die Kleistsche Maxime von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Und im Kopf des René Pollesch lauern viele originelle Gedanken und Lesefrüchte. Das mögen Insider-Gags aus der Schauspiel-Szene sein, das dürfen gerne auch Theorien von Brecht und Foucault oder Ergebnisse der Quantenmechanik sein, nicht zu vergessen die reichen Bestände des modernen Wortmülls, der in allen Medien zur Bedienung freigegeben wird. Daraus wird dann postdramatisches Assoziations- oder Diskurs-Theater, kreatives Gedanken-Spiel ganz in der Tradition der bekannten Sprach-Wirrologen Jelinek, Handke oder Marthaler.

Einmal sagt ein Schauspieler vom Balkon der Villa herab; es sei wichtig, dass ein Endprodukt wertvoller sein müsse als sein dafür verbrauchter Rohstoff. Dies ist bei der Nürnberger Inszenierung vortrefflich gelungen, denn die sehr diversen Textstränge fügen sich zu einem fast poetischen Ganzen, das zwar keine Antworten gibt, aber ganz viele originelle Fragen stellt. Selbst wenn man bei manchen verrätselten Passagen nur begrenzt folgen kann, bleibt ein berührender Eindruck von dem, was Theater alles noch kann.

Am Ende wird die Villa leider wieder abgebaut, werden die Einzelteile im hinteren Bühnenraum vom Chor sorgfältig abgestellt, dann senkt sich ein Vorhang. Demonstrativer Beifall der 50 zugelassenen Besucher. Hoffentlich können die Bauteile ab dem Dezember wieder ausgepackt werden! Fight The Virus And Run!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/take-the-villa-and-run-ua/31-10-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Antigone      ***

von Sophokles

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 10.10.2020

 

Es ist was faul im Stadtstaat Theben: König Ödipus hat seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt. Zur Strafe schicken die Götter eine Seuche, Ödipus blendet sich selber und verlässt die Stadt. Seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes sollen als Doppelspitze mit Rotationsprinzip die Stadt regieren, was grundsätzlich schief geht und mit einem Krieg um die Stadt endet, bei dem beide getötet werden. Also muss der Onkel Kreon als Autokrat her, um wieder Ordnung nach Theben zu bringen. Eine seiner ersten Maßnahmen ist ein Bestattungsverbot für den Angreifer Polyneikes.

So flapsig kann man die Vorgeschichte zur Tragödie „Antigone“ formulieren, doch das ist nicht der Stil von Regisseur (und Bühnenbildner) Andreas Kriegenburg. Er lässt zunächst einen achtköpfigen Chor in einer Art Gebetskreis mit Mundschutz und grober Khaki-Leinenkluft auf die verschattete Bühne treten, der, eingerahmt von den den Substantiven „Stille“ und „Schrei“, einen Prolog in gebundener Sprache vorträgt. Dazu rieselt beständig von oben Sand auf die Akteure; später wird dieser von Antigone als Grabbedeckung für ihren Bruder genutzt.

Danach die eigentliche Tragödie, jene dialogische Auseinandersetzung mit der Hybris eines Herrschers und dem Recht auf Widerstand. Die Szenerie bleibt gleich, die Seiten- und Hinterwände bestehen aus instabilen Sperrholz-Flächen, aus dem geheimnisvoll choreografierten Zombie-Chor lösen sich Einzelpersonen. Die berühmte Auseinandersetzung zwischen Kreon („Mich wird im Leben nie ein Weib regieren“) und Antigone („Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil“) wird gleich zweimal wiederholt - mit drei verschiedenen Kreons (Michael Hochstrasser, Adeline Schebesch, Amadeus Köhli): Erkenntnisgewinn gering!

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Antigone von Pauline Kästner, doch im Gegensatz zu ihrer spektakulären Nora in der vergangenen Spielzeit, vermag sie dieser Figur außer verhärmtem Leid, physischer Erschöpfung und inflationärer Emotion wenig mitzugeben. Viel präsenter wirkt da die konsensorientierte Ismene (Anna Klimovitskaya) - möglicherweise die neue Leitfigur bei einer Krisenbewältigung. Die politische Dimension des Stückes gerade in der Gegenwart schimmert nur an wenigen Stellen durch, eher entsteht der gleichförmige Eindruck eines Sandkastenspiels mit Totentanz, erinnernd an manche Regiearbeiten von Ulrich Rasche (freilich ohne dessen gigantomanische Mechanik). Die pointierte Übersetzung des Textes durch Oliver Karbus, der vor langer Zeit in Nürnberg als Schauspieler und Regisseur reüssierte, fokussiert sich vor allem auf das aufklärerische Prinzip der Vernunft und auf eine Polemik gegen den Männlichkeitswahn. Das - zumindest - kann man in den Zeiten von Fake News und Trump gerne unterschreiben.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/antigone/16-10-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder     ****

von Boris Nikitin

Regie: Boris Nikitin

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 19.9.2020

 

Zur Jahreswende 1999/2000 befürchteten viele den Weltuntergang durch den Zusammenbruch aller computer-basierten Systeme (Y2K) mit Folgen wie Börsencrash oder Crash der Infrastrukturen. Es kam nicht so schlimm: stattdessen wurde Angela Merkel Vorsitzende der CDU, Wladimir Putin russischer Staatspräsident und George Bush jr. US-Präsident. Und die westeuropäische Medienwelt erlebte mit der Reality-Show „Big Brother“ den Beginn eines neuen Formats, der in Deutschland ab Februar 2000 auf dem Privatsender RTL II ausgestrahlt wurde. Menschen gingen freiwillig (?) für 100 Tage in den Studio-Container und ließen sich in ihrem 24stündigen Alltag filmen: ein unverzeihlicher Tabubruch oder eine neue Form der Selbstverwirklichung?

Boris Nikitin hat schon seit dem März-Lockdown den Rückblick auf diese „Erste Staffel“ als Recherche-Projekt gestartet, nun stellt er ziemlich originalgetreu den Big-Brother-Container samt Video-Regieplatz auf die Bühne des Schauspielhauses.

Durch die ersten 70 Minuten vor der Pause muss man durch, denn hier hat die Inszenierung nur Abbild-Charakter und präsentiert mit sechs Schauspielern (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Tjark Bernau, Yascha Finn Nolting, Maximilian Pulst, Cem Lukas Yeginer) ausgewählte Beispiel jener Papperlapapp-Kultur, erfunden von zynischen Programmdirektoren, die an das abgrundtief Dumme des Menschen glauben. Das meiste spielt sich innen ab und wird durch Kameras auf eine große Leinwand übertragen, nur manchmal treten die Bewohner ins Freie, auf die Liegestühle, an den Grill, an die Fitnessgeräte oder zum Hühnerstall. Besinnlich wird es, wenn Tjark Bernau sich in der Nacht aufs Klo zurückzieht und vielleicht über die Frage nach der Problematik des gelingenden Dialogs im modernen Drama bei heruntergelassener Unterhose nachdenkt. Beim bildungsbürgerlich-medienkritisch orientierten Zuschauer schleicht sich zunehmend ein Gedanke ein: „Ich habe mir den Quatsch nie angeschaut, warum muss ich das nun im Theater tun?“

Doch gemach; nach dem unverzichtbaren Informations-Input folgt im zweiten Teil ein virtuoses Spiel mit Parallelebenen, Verzerrungen und Irritationen. Süheyla Ünlü zitiert Passagen aus George Orwells Dystopie „1984“, Julia Bartolome verwandelt sich kurzzeitig in eine amerikanische Werbe-Tussi, die euphorisch die Einrichtungsgegenstände präsentiert, Tjark Bernau schlüpft in die Rolle eines Medienkritikers und Yascha Finn Nolting setzt zu einem furiosen Monolog über die Arbeitsplatz-Probleme in den Neuen Bundesländern an.

Diese erfrischenden Verfremdungen laden zur Selbstbefragung ein: Ist die ganze Welt mit YouTube, Instagram und Video-Überwachung schon zum Container geworden?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/erste-staffel-20-jahre-grosser-bruder-ua/25-09-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Das Erdbeben in Chili    ***

von Heinrich von Kleist

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 18.9.2020

 

Mit Sicherheitsgurt und angezogener Handbremse startet das Nürnberger Schauspiel in die Corona-Saison 2020/21: kleine Produktion, k(l)eine Bühne, kleines Publikum - zu dem aber immerhin der bayerische Kulturminister Sibler, der OB König und die Bürgermeisterin Julia Lehner gehörte.

Schauspieldirektor Gloger hatte für den Auftakt Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ausgesucht und als rudimentär szenisches Lesedrama für drei Schauspieler einstudiert. Bei Kleists 19 Reclam-Seiten (veröffentlicht 1806) geht es um die emotionale Achterbahn-Fahrt des Paares Jeronimo und Josephe samt ihrem unehelichen Kind Philipp. Wegen sittenwidrigem Verhalten soll sie mit Enthauptung bestraft werden, er plant im Gefängnis seinen Selbstmord. Doch ein verheerendes Ereignis, das Erdbeben, das 1647 in St. Jago (= Santiago de Chile) stattfindet, bedeutet für die beiden die überraschende Rettung und das erfreute Wiederfinden: „Wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden“. Aber die Idylle und der Glaube, dass der menschliche Geist gerade angesichts einer Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume“ aufgehe, währen nur kurz. Beim Dankgottesdienst (wofür?) in der Kirche kommt es zu einer Hasspredigt des Geistlichen gegen die Sittenverderbnis der Stadt, der aufgehetzte Mob verfällt sofort wieder in alte aggressive Verhaltensmuster und ermordet das sündige Paar mit Keulenhieben. Nur der kleine Philipp überlebt, er wird von Don Fernando als Pflegesohn angenommen - vielleicht ein Ausblick auf eine bessere Zukunft der Menschheit?

Bezüge zur gegenwärtigen Pandemie lassen sich da zweifellos finden, Kleist sprachlich fesselnde und ergebnisoffene Grübelei über Theodizee und die Dialektik der Weltgeschichte angesichts der Abläufe der Französischen Revolution lädt zur vertiefenden Nachbesprechung ein - was leider (noch) nicht in den Räumlichkeiten des Staatstheaters möglich ist!

Drei Ensemble-Mitglieder in leicht historisierender Schwarz-Weiß-Kleidung sprechen die Novelle ohne jede Kürzung vor einer schmucklosen silbergrauen Bretterwand (Bühne und Kostüme: Tanja Berndt), die kurz mit Morgenröte, häufiger mit Tageslicht oder Nachtdunkel angestrahlt wird: Pauline Kästner bewegt sich meist in der „Rolle“ der Josephe, Amadeus Köhli meist in der „Rolle“ des Jeronimo, Sascha Tuxhorn erledigt mit partieller Verstörung die erzählerischen Abschnitte und das heldenhafte Auftreten des Don Fernando. So entsteht der diskrete Charme eines Hörbuchs mit Bildschirmschoner und netter Hintergrundmusik - nach 55 Minuten ist alles vorbei.

Wer Lust zu einer vergleichenden Theaterfahrt hat, kann nach München reisen, wo das Residenztheater mit dem gleichen Text die Saison am 25. September eröffnen wird. Die Regie von Ulrich Rasche verspricht immerhin mehr Bühnenspektakel, mehr chorische Intensität und mehr musikalisches Drama.

Nürnberg spielt eben in dieser Saison zunächst mal in der 2. Liga!?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/das-erdbeben-in-chili/19-09-2020/1700

 

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/das-erdbeben-in-chili


Zdenek Adamec (UA)      **

von Peter Handke

Regie: Friederike Heller

Salzburger Festspiele (Landestheater Salzburg)

Premiere am 2.8.2020

besuchte Vorstellung: 16.8.2020

 

Am 6. März 2003 hat sich der junge Tscheche Zdenek Adamec (18) auf dem Prager Wenzelsplatz öffentlich verbrannt und damit eine Serie von öffentlichen Selbsttötungen fortgesetzt, die 1969 der Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes begonnen hatte. Adamec tat seine Motive in einer Internet-Botschaft kund, in der er die ganze Welt als "vom Geld dominiert und verdorben" bezeichnet, in der er das Fernsehen als "satanische Erfindung" tituliert, mit der Kinder zu blutrünstigen Monstern erzogen werden, und in der er von einer "echten Herrschaft des Volkes" träumt. Er beendet seinen Abschiedsbrief mit den Worten "Macht keinen Irren aus mir!"

Schon in seinem 2017 veröffentlichten Roman "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere" ist Peter Handke auf diesen Fall gestoßen und lässt den jungen Mann Valter über Zdeneks Motive reflektieren: sein "Sterben war gemeint als Protest", er "hat sich aus der Welt katapultiert, um zu protestieren gegen die Welt". Nun entstand daraus ein Theatertext, der bei Suhrkamp veröffentlicht wurde und wenig später bei den verkürzten Salzburger Jubiläums-Festspielen seine Uraufführung fand. Der umstrittene Nobelpreisträger bemüht sich aber kaum um dokumentarische Recherche oder um dramatische Zuspitzung (wie das etwa Frank Wedekind beim Schülerselbstmord des Moritz Stiefel in "Frühlings Erwachen" getan hat), vielmehr mangelt er das Thema durch seine sehr beliebig wirkende Assoziations-Maschinerie, einer Mischung aus bildungsbürgerlichem name dropping und popkultureller Rückerinnerung. So entsteht ein lauwarmer, rätselhafter und leicht vergesslicher Theaterabend, in dem sieben rollenlose Schauspieler Handkes Textflächen aufsagen und drei Musiker banale und bedeutungsschwere Hintergrundmusik produzieren. Selbst das engagierte Programmheft der Dramaturgin Andrea Vilter kann mit einem mehrseitigen Glossar nicht erklären, warum plötzlich auf der Bühne Oldies wie "Black Is Black", "Summer Wine" oder "Memphis Tennessee" gesungen werden. Offensichtlich desorientiert steuert Regisseurin Friederike Heller die Akteure durch dieses sogenannte "Festspiel", das in einem quasi-sakralen Ambiente mit drehbarer gotischer Kreuzgang-Architektur stattfindet (Bühne: Sabine Kohlstedt). Sagen wir es direkt: Peter Handke ist ein belesener, aber weltfremder Scharlatan mit der Neigung zu punktueller Provokation, der eigentlich nichts mehr zu sagen hat, das aber mit sprachlicher Brillanz und Virtuosität trotzdem tut. Sein letztes sehens- und lesenswertes Produkt war "Immer noch Sturm" (2010).

 

https://www.suhrkamp.de/buecher/zden_k_adamec-peter_handke_42920.html


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

The Legend Of Georgia McBride (DSE) ****

von Matthew Lopez (aus dem Englischen übersetzt von Hannes Becker)

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 25.1.2020

 

Bisher verortete man das Thema Drag-Queens nur in Castings-Shows des Privatfernsehen - wie derzeit auf ProSieben, wo eine illustre Jury aus Heidi Klum, Bill Kaulitz und Conchita Wurst ihr Urteil abgibt, ob pompös als Frauen verkleidete Männer lippensynchron angesagte Pop-Songs vortragen können. Mit „The Legend of Georgia McBride“, dem Stück des US-amerikanischen Autors Matthew Lopez kommt der Trend nun auch auf die Staatstheater-Bühne und erhält in Nürnberg eine fulminante deutschsprachige Erstaufführung.

Lopez hat sich dazu 2015 eine weitgehend banale Story ausgedacht, die ansatzweise an die „Ladies Night“ (bzw. an den Film „Ganz oder gar nicht“) erinnert, wo Stahlarbeiter aus Sheffield aus drängenden Geldsorgen eine Männer-Strip-Show auf die behaarten Beine stellten. Hier ist es nun der erfolglose Elvis-Presley-Imitator Casey, der (zunächst) unfreiwillig Teil einer Drag-Queen-Performance in einer Florida-Strandbar wird. Dabei lernt er einiges über die Außenseiter-Rolle dieser Akteure, gefährdet aber gleichzeitig das Hetero-Familienglück mit der schwangeren Ehefrau Jo (Süheyla Ünlü, die erst am Ende mitsingen darf). Es kommt zu drag-ödienhaften Krisensituationen und holzschnittartigen Entscheidungs-Dialogen, zu moralinsauren Untiefen der political correctness, die sich aber in einem in einem Alle-Menschen-werden-Brüder (oder Schwestern?)-Finale in Wohlgefallen auflösen. Zum Glück walzt die temporeiche Inszenierung von Christian Brey dieses Handlungsgerüst nicht zu breit aus und streut eine erfrischende Portion Selbstironie darüber.

Geschenkt, denn der Knaller des Abends sind die Drag-Queen-Auftritte von Pius Maria Cüppers als alternde Miss Tracy Mills, der sich in schriller Kostümierung über das Songmaterial von Barbara Streisand, Cher oder den Weather Girls hermacht, und von Yascha Finn Nolting, der als glitzerndes Rhinestone-Cowgirl mit dem Künstlernamen Georgia McBride die Country-Schnulzen von Loretta Lynn, Dolly Parton und den Dixie Chicks performt. Seine Aufnahmeprüfung besteht er mit einer Edith-Piaf-Impersonation, die eigentlich Miss Anorexia Nervosa (Maximilian Pulst) vortragen sollte, die aber beim Rollschuh-Stunt zu Sturze kommt. Als geldgieriger und abgebrühter Clubbesitzer Eddie sorgt Michael Hochstrasser für die passenden Ansagen.

Dazu hat Anette Hachmann die Drehbühne mit einem überdimensionalen Fuchs-Podium und einer funktionalen Garderobe bestückt, Kai Luczak zaubert eine punktgenaue Lightshow, Thomas Esser ist für den knalligen Sound verantwortlich und Yoko El Edrisi hat sich eine muntere Choreografie für vier männliche Triller-Girls ausgedacht. Am Ende verfällt die bestens unterhaltene Premieren-Gesellschaft in rhythmisches Klatschen und spendet stehende Ovationen. Diese Legende hat das Zeug zum generationen- und gender-übergreifenden M/W/D-Publikums-Renner!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/the-legend-of-georgia-mcbride-dse/28-01-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Kaspar       *****

von Peter Handke

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 30. 11. 2019

 

Wer zufällig am Nachmittag im Stadion des 1. FCN eine desolate Mannschafts-Aufstellung erlebt hatte, würde gerne den Satz sprechen, den am Abend im Schauspielhaus der Findling Kaspar Hauser anfangs intoniert: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Und der andere wäre dann der historische Stadionbesucher aus dem Jahre 1968 gewesen, der eine Meister-Elf erleben durfte, der der damalige Vollzeit-Provokateur Peter Handke ein „Gedicht“ gewidmet hatte. Die wenig poetischen Verszeilen schmücken auch kurzzeitig die Feuerschutzwand der Schauspielhaus-Bühne, vor der Kaspar (Felix Mühlen mit gefährlicher Fallsucht) und seine beiden Einsager (Maximilian Pulst mit intelligenten pantomimischen Ideen und Janning Kahnert mit präziser Diktion) zum ersten Mal sehr wörtlich aufeinandertreffen.

Ab diesem Moment wird mit großem Sprachwitz und Bewegungstalent die Geschichte „Des Widerspenstigen Zähmung durch Sprache“ gespielt, das Regisseur Jan Philipp Gloger zusammen mit den Dramaturgie-Zuarbeitern Katharina Gerschler und Sascha Kölzow aus dem 1968er-Sprechstück von Handke herausdestilliert haben. Die Regieanweisungen des Autors wurden radikal und konsequent ignoriert (auch die eigentlich vorgeschriebene Pause mit akustischer Sprachfolter für die Zuschauer!), die Sprechtexte zu etwa zwei Drittel gestrichen - und die Copyright-Ergänzung „von Peter Handke“ müsste nun eigentlich „von und nach und mit und über Peter Handke“ heißen. Denn eine heutige Inszenierung kann eigentlich die aktuelle Diskussion über den Nobelpreisträger nicht ausblenden. So entwarf das Regie-Team eine höchst amüsante Zwischen-Passage, in der die verquast-esoterische Sprache und die dubiosen politischen Einlassungen des Herrn Handke (mit gleich dreifacher Präsenz auf der Bühne!) ironisch zerlegt werden - oder mit Boethius: „Wenn du geschwiegen hättest …“. Ansonsten montiert Gloger die schier endlosen Textbausteine aus Spracherwerb, Sprach-Ritualen und manipulativer Sprache in ein unterhaltsames szenisches Konzept, das Stationen der deutschen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zitiert (Bühne: Judith Oswald). Der derangierte Kaspar durchläuft ein gut bürgerliches Biedermeier-Ensemble und ein strenges Schulzimmer mit hölzerner Zweierbank und Lehrerpult, bis er und seine Kollegen schließlich in der verspiegelten Samstagabend-Disco beweisen, dass man Handkes redundante Ich-Sätze auch als geschniegelten Popsong vortragen kann (Musik: Kostja Rapaport). So vergehen die pausenlosen 90 Minuten - im Gegensatz zu der anfangs erwähnten Fußball-Ödnis - wie im Fluge; der Abend wird zur lustvollen Sprecherziehung mit der Chance für Selbstreflexion samt aktuellem Debatten-Beiwerk ohne besserwisserischen Zeigefinger. Kaspars resignatives Fazit „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen“ darf bei der angeregten Nachbesprechung gerne vergessen werden. Zu Beginn der letzten Spielzeit hat Jan Philipp Gloger mit dem Ionesco-Abend „Ein Stein fing Feuer“ ein Ausrufezeichen des gar nicht so absurden Theaters gesetzt, das ist ihm nun mit „Kaspar“ in ähnlicher Weise wieder gelungen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/kaspar/03-12-2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Nora     *****

von Henrik Ibsen

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 2.11.2019

 

Den Selbstzweifeln des Regisseurs Andreas Kriegenburg, ob man denn einer heutigen Schauspielerin noch die männlichen Unterdrückungsmechanismen des 19. Jahrhunderts zumuten könne, und ob es stimmig sei, den ersten weiblichen Emanzipationsversuch der Moderne (von der UNESCO als Weltdokumentenerbe gewürdigt) wiederum aus männlicher Perspektive zu inszenieren, ist es zu verdanken, dass das Publikum im Nürnberger Schauspielhaus eine furiose und zugleich nachdenkliche wie emotionale Version von Ibsens „Nora“ geboten bekam. Da mag auch ein bisschen Koketterie des erfahrenen Inszenierungs-Profis dabei sein, das Ergebnis des gut dreistündigen Theaterabends lässt es zu, alle Wenns und Abers beiseite zu wischen. Der Kniff, mit dem Kriegenburg schließlich seine Nürnberger „Nora“ legitimiert und zum Erfolg führt, ist ein doppelter: zum einen bedient er sich bei Bertolt Brecht, dem Theorievater des epischen Theaters, der schon vor etwa 80 Jahren forderte, dass der Schauspieler seine Figur lediglich zu zeigen habe, dass seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich die seiner Figur sein sollten. So entsteht über weite Strecken des Stückes ein anregender (neu geschriebener) Dialog zwischen der grandiosen Schauspielerin Pauline Kästner und ihrer Theaterfigur Nora Helmer. Dabei wandelt sich Pauline/Nora von der kapriziösen Lady in red zur rot geschminkten drama queen und schließlich zum Maskenball-Charlie-Chaplin, der angesichts des Ausbleibens einer wunderbaren Rettung nur noch den traurigen Abgang vollziehen will, der die Selbsterziehung nur in der Freiheit von Mann und Kindern verwirklicht sieht.

Die andere Aktualisierung besteht darin, dass sich Nora und Ehemann Torvald (Maximilian Pulst), der von ihr auch mal „mein kleiner Tori“ tituliert wird, über weite Strecken auf Augenhöhe begegnen. Der aalglatte Banker im Business-Anzug mutiert am Schluss zu einer derangierten Marilyn-Monroe-Puppe, er erkennt langsam, dass seine materielle Freiheit mit einem Rundlauf im Hamsterrad der Karriere erkauft ist.

Kriegenburg hat als gleichzeitiger Bühnenbildner einen funktionalen weißen, in der Größe veränderbaren Bühnenkasten (kein Puppenheim!) geschaffen, der als zentrales Bildsymbol auf der Rückwand eine überdimensionale Nora/Pauline-Aktfotografie zeigt: eine ganz und gar nicht pornografische Hügellandschaft, die Nora am liebsten mit sterbenden Föhren übermalen würde. Mit Plastik-Weihnachtsbaum, mobilem Kleiderschrank, E-Piano und Smartphone-Soundbox werden nur wenige Accessoires zugelassen. Dieses höchst reduzierte Mobiliar richtet den Blick auf das ebenfalls geschrumpfte Personal der Aufführung: Neben Nora und Torvald erlebt man in adäquater darstellerischer Qualität eine leicht verhuschte Kristine Linde mit Second-Hand-Klamotten (Julia Bartolome), einen um die Existenz kämpfenden Rechtsanwalt Krogstadt (Tjark Bernau) und einen den Tod ins Auge schauenden Pausen-Clown Dr. Rank (Raphael Rubino).

Langanhaltender Beifall und berechtigte Bravo-Rufe für Regie und Hauptdarstellerin. Unbedingt sehenswert!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/nora/03-11-2019/1900


Der Verschwender ***

von Ferdinand Raimund

Inszenierung: Georg Schmiedleitner

Landestheater Linz (Schauspielhaus)

Premiere am 12.10.2019

besuchte Vorstellung: 23.10.2019

 

Als Hugo von Hofmannsthal die Uraufführung seines Stückes "Jedermann" 1911 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt erlebte, konnte er noch nicht ahnen, dass er damit einen modernen Klassiker der pädagogischen Besserungsliteratur geschrieben hat. Erst die Entscheidung, diese szenische Umsetzung des Bibelspruches "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ zum touristischen Dauerbrenner der Salzburger Festspiele (seit 1920) zu machen, führte zur Kanonisierung des Mysterienspiels, das mittlerweile mehr vom Salzach-Ambiente denn vom Inhalt lebt. Dabei hatte der Österreicher Ferdinand Raimund schon 1834 ein Original-Zaubermärchen vom Sterben des reichen Mannes in Wien präsentiert: "Der Verschwender". Es handelt vom aufhaltsamen Abstieg des Julius von Flottwell, der sich trotz der Warnungen guter Geister dem Glanz des Mammons unterwirft und dann gut zwanzig Jahre später angesichts der Ruine seiner Existenz zu der Erkenntnis kommt: "Ich habe mich versündigt an der Macht des Geldes".

Regisseur Georg Schmiedleitner kehrt mit diesem Musterexemplar des Wiener Volkstheaters an die Anfänge seiner Karriere, nach Linz zurück. In einer bildstarken und musikalisch radikal modernisierten Fassung balanciert er dieses Stück zwischen bürgerlichem Tugendideal des 19. Jahrhunderts und aktueller Kapitalismuskritik. Die ziemlich vordergründige Gleichheits-Ideologie des Hobelliedes wird als Elektro-Pop-Hymne nur zitiert (Musik: Joachim Werner live am Klavier und an sonstigen Klangerzeugern), das wenig differenzierte Ideal der braven Handwerker-Familie wird durch Schminke und den Realismus der Rosa (Anna Rieser) kräftig konterkariert. Im Mittelpunkt der drehfreudigen Inszenierung steht Julius von Flottwell (Christian Higer), der zunächst im glänzenden Pyjama-Höschen mit protziger Goldkette durch das Publikum auf die Bühne klettert und dort einer feierfreudigen Party-Gesellschaft Kokain und Geldscheine zuwirft. Sein "Schloss" ist eine zweistöckige Wohnlandschaft, die oben als gläsernes Luxus-Penthouse und unten als Dienstboten-Areal mit Garage und enger Biedermeier-Kammer konstruiert wurde (Bühne: Florian Parbs). Am Ende sitzt Flottwell im abgewetzten Mantel wie Beckmann draußen vor der Tür seiner abgewrackten Residenz und lässt sich vom Tischler Valentin (Julian Sigl) erklären: "Da ist der allerärmste Mann dem anderen viel zu reich. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt's beide gleich".

Leider kann die ambitionierte Bühnenfassung nicht auf ein gleichmäßig besetztes Ensemble zurückgreifen, sodass die Kontrastfiguren zum Verschwender (besonders der intrigante Kammerdiener Wolf) recht klischeehaft und oberflächlich ausfallen und selbst dem Protagonisten am Ende etwas die Luft ausgeht. Dennoch ein sehenswertes modernes Märchen, das im Gegensatz zum "Jedermann" mit surrealen Zwischentönen Nachdenklichkeit erzeugt.

 

https://www.landestheater-linz.at/schauspielhaus/stuecke/detail?EventSetID=3104&ref=3104155191241


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

I Love You, Turkey!      ***

von Ceren Encan

Übersetzung aus dem Türkischen: Oliver Kontny

Regie: Selen Kara

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 5.10.2019

 

Seit mindestens einem Vierteljahrhundert stellt sich die Türkei in Bezug auf Europa die Frage „Reingehen oder draußen bleiben?“. Seit gut zehn Jahren erörtern junge Bewohner der Metropole Istanbul das Problem „Gehen oder Bleiben?“. Zu dieser Gruppe gehört ohne Zweifel auch die Dramaturgin Ceren Ercan, die vor Ort miterleben musste, wie eine Mehrheit (?) in der Türkei ihr Heil beim diktatorischen starken Mann und beim Abbau des liberalen Rechtsstaats sucht. Dieses Thema hat Ercan zu einer Bühnen-Trilogie angeregt, deren Teil 1 „I Love You, Turkey!“ 2017 beim Internationalen Theaterfestival in Istanbul für Aufsehen sorgte. In den Nürnberger Kammerspielen ist nun zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung (von Oliver Kontny) dieses höchst aktuellen Stücks zu sehen.

Der Prolog vor den Bühne wagt einen fragwürdigen geschichtlichen Verweis: zwei Schauspieler zitieren aus dem Gespräch von Rainer Werner Fassbinder mit seiner Mutter im „Deutschen Herbst“ 1979: „Ich hab auch Angst, aber ich hab das Gefühl, dass ich hier nicht weg kann.“ Hätte man nicht besser an die Situation in der DDR 1989 oder im Deutschen Reich ab 1933 erinnern sollen?

Der zentrale Schauplatz danach ist nicht ohne Symbolik: ein Waschsalon, der mit Stahlgerüst und grauen Fliesen das Bild einer Gefängniszelle vermittelt. Darin neun Waschmaschinen, deren beleuchtete Ladefenster an einschüchternde Überwachungskameras erinnern (Bühne: Lydia Merkel). Kafka und Orwell lassen grüßen, denn hier treffen sich Menschen, denen aus unbekannten Gründen zu Hause das Wasser abgestellt wurde und die feststellen müssen, dass ihre Präsenz in den sozialen Medien lückenlos überwacht wird. Da ist die Übersetzerin Irem (Lisa Mies), die seit über 90 Tagen in einen Selbstwäsche-Streik getreten ist, weil ihr an der Türkei einiges stinkt. Verschüchtert die modebewusste Damla (Süheyla Ünlü), deren Freund aus Arizona Freiheits-Mails schreibt. Dazu die junge Mutter Defne (Lea Sophie Salfeld), die ihren Sohn Dervish Direnç (auf deutsch: Widerstand) genannt hat, und der schwule Radiomoderator Emre (Amadeus Köhli), der in einer bewegenden Rede von der Niederschlagung der Gay-Pride Parade erzählt. Ihnen gegenüber steht der Salon-Manager Alican (Nicolas Frederic Djuren), ein leicht übergriffiger Handlanger des Systems mit unklarer Vergangenheit. Er stöbert in der Wäsche der Kunden und findet ein T-Shirt mit verdächtigem Aufdruck, ein Kurdentuch und einen Kissenbezug mit westlichen Comicfiguren: „Wenn es ihnen hier nicht passt, dann können sie auch das Land verlassen!“

Aus dieser bewusst überzeichneten Personen-Aufstellung entsteht in der Regie von Selen Kara, die in der letzten Saison den sehr regionalen Liederabend „Die Musik war schuld“ verantwortet hat, eine flotte Nummern-Revue mit einigem szenischen Spektakel, mit besinnlichen Momenten und eindringlichen Monologen, untermalt von Video-Einspielungen und getragenem Background-Piano (Vera Mohrs). Das neue Grundprinzip der Diversität ist in jedem Fall gewahrt: es gibt ein sehr informatives zweisprachiges Programmheft und türkische Untertitel an beiden Bühnenseiten. Der traditionell deutsche Besucher des Staatstheaters erhält einen lohnenswerten Zeitgeschichte-Crash-Kurs „Türkisch für Anfänger“, ob auch Deutsch-Türken aus der Umgebung in großer Zahl diese Einladung zur Selbstreflexion annehmen werden, bleibt abzuwarten. Das Stück jedenfalls endet mit Ablenkung bei einer Schaumparty, einem Bühnen-Dreh zur westlichen Cocktail-Bar und langem Beifall für die Akteure - besonders für die anwesende Autorin Ceren Ercan.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/i-love-you-turkey-dse/09-10-2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Besessenen     ***

nach den Bakchen des Euripides in einer Übertragung von Roland Schimmelpfennig

Inszenierung: Jan Philip Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 28.9.2019

besuchte Vorstellung: 29.9.2019

 

Die Götter sind ziemlich sauer, wenn man als normaler Sterblicher an ihrer Göttlichkeit zweifelt. Und sie denken sich brutale Strafen für die Ungläubigen aus, damit künftighin niemand mehr ihre Allmacht in Frage stellt. So könnte man in „einfachem Deutsch“ die Quintessenz von Euripides‘ erst posthum (also etwa um 400 v. Chr.) aufgeführter Tragödie „Die Bakchen“ beschreiben. Eine ganz andere Lesart wäre natürlich auch möglich: will hier ein aufgeklärter Schriftsteller die Vernunftwidrigkeit jener dionysischen Verblendung und Unmenschlichkeit in drastischer Weise ins Schaufenster stellen? Soll hier Dionysos, der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase als Rattenfänger von Hameln an den Theaterpranger gestellt werden?

Während nun Regisseur Ulrich Rasche beim Opening des Wiener Burgtheaters zu diesem Stück wieder einmal einen stählernen Maschinenpark auf die Bühne wuchtete und das Ensemble in monotonen chorischen Sprechgesang versetzte, geht Jan Philipp Gloger bei der Saisoneröffnung in Nürnberg einen anderen, allerdings auch nicht gänzlich überzeugenden Weg: er unterwirft die Euripides-Tragödie einem textlichen Re-Launch (von Roland Schimmel­pfennig) und dreht das Stück - zusammen mit den beiden Dramaturgen Brigitte Ostermann und Fabian Schmidtlein - durch eine gewagte Assoziations-Mühle mit punktuellen Kalauer-Untiefen. Das beginnt schon bei dem Titel: „Die Besessenen“. Dabei sind jene in Wahnsinn verfallene Jünger des Dionysos-Kultes gar nicht zu sehen (Fake News?) und die beiden alten Weisen (Kadmos und Teiresias) wirken eher wie nostalgische Alt-Hippies aus San Francisco („wear some flowers in your hair“). Die markanten Personen des Stückes sind eindeutig der jung-dynamische thebanische König Pentheus (Sascha Tuxhorn) und seine Mutter Agaue (Ulrike Arnold), die sich zunächst als Vertreter einer rationalen Staatsmacht positionieren. Bei Agaue beginnt diese Rolle mit einer ikonisch drapierten Politiker-Festrede (übernommen von dem römischen Philosophen Chrysostomos), die aber bald vom göttlichen Dreigestirn (Cem Lukas Yeginer, Annette Büschelberger, Anna Klimovitskaya) handgreiflich gestört wird. Pentheus will gegen das dionysische Treiben die traditionellen Sanktionsmittel des Staates anwenden, bis auch er in seiner Identität als mächtiger weißer Mann empfindlich erschüttert wird und sich in Frauenkleidung und Blondie-Perücke als voyeuristische Conchita wiederfindet. Am Ende ist er der im wahrsten Sinne des Wortes Zerrissene, seine Mutter die Kindes-Mörderin und Heimatlose.

Dazu eröffnet das Bühnenbild von Judith Oswald noch eine etwas rätselhafte Meta-Ebene: ein auf-, ab- und zubewegter Vorhang hinter dem Vorhang, der beidseitig bespielt wird und ein bisschen das Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit ausleuchten soll.

Direktor Gloger hält sich wieder an die scheinbar fest etablierte Nürnberger Theater-Zeit: 100 Minuten ohne Pause. Danach allseitiges Stirnrunzeln.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/die-besessenen/01-10-2019/1930


Foto: Ruth Walz
Foto: Ruth Walz

Die Empörten    **

von Theresia Walser

Inszenierung: Burkhard C. Kominski

Landestheater Salzburg (Salzburger Festspiele)

mit: Caroline Peters, Silke Bodenbender, Andre Jung

Premiere am 18.8.2019

besuchte Vorstellung: 29.8.2019

 

Das ist die Crux von Auftragsarbeiten: man kauft die Katze im Sack, hofft auf Qualität der Namen und auf eine stimmige Vorbereitung. Im vorliegenden Fall sollte Theresia Walser ein Stück für die Salzburger Festspiele schreiben, das danach (= ab Januar 2020) noch am Schauspiel Stuttgart weiterverwertet werden kann. Das Ergebnis ist ein reichlich zähes Kammerspiel, das zwar gängige Problemfelder der Gegenwart anspricht, jedoch nie zu einem wirklich bedenkenswerten Theaterabend wird.

Die Autorin Walser liefert im Wesentlichen feuilletonistische Textflächen ab, die mal gebremst provokativ, dann wieder stilistisch bemüht in eine groteske Handlung gepresst wurden. Natürlich wissen wir, dass bei tragischen Unfällen (hier rauschte ein Pizza-Bote mit Lieferwagen in die Fußgängerzone) ein Terror-Verdacht in kleinen Städtchen zur Hysterie führen kann, dass Kommunalpolitiker manchmal Kot oder Dreck oder totes Getier im Briefkasten vorfinden, das man über Kreuze in Amtszimmern streiten kann und dass aus einstmals links sozialisierten Kindern auch rechtspopulistische Schreihälsinnen werden können. Doch was hier in knapp zwei Stunden die Bürgermeisterin (Caroline Peters), ihr Bruder, ihr Redenschreiber (Andre Jung) und ihre AfD(?)-Gegenkandidatin (Silke Bodenbender) im Vorfeld der geplanten Trauerfeier miteinander verhandeln, dreht sich mit gestelzten Monologen und banalen Dialogen virtuos im Kreis. Wenn dann Frau Achmedi (Anke Schubert), die Frau des Opfers, die Bühne betritt, wird es kurzzeitig besinnlich, doch auch ihre Logik und ihre Aussagen bleiben vage und ambivalent. Ach ja, wahrscheinlich ist eben die Welt so!

Die im Titel angekündigten "Empörten", also doch wohl die heute so bekannten Wutbürger sind auf der Bühne weder zu sehen noch zu hören. Und der literaturhistorische Verweis auf den Kreon-Stoff führt gänzlich in die Irre, denn es war ja Antigone die für ihren Bruder das Recht zur Bestattung einforderte. Hier aber will die Bürgermeisterin ihren toten Bruder in einer Holzkiste verstecken - also sozusagen die Leiche im Keller zwischenlagern - um bei der bevorstehenden Wahl bessere Chancen auf das Amt zu haben. Regisseur Kominski verlässt sich angesichts dieser Textschwäche ganz auf die Sprechmacht der Hauptdarsteller, wobei ihm aber Silke Bodenbender wegen offensichtlicher Profillosigkeit ausfällt. Auch die Bühne (Florian Etti und Sebastian Pircher) mit ihrer wenig schlüssigen Landschafts-Video-Projektion im Hintergrund bringt keine Spannung ins Geschehen. Zurück zum Anfang: Qualität der Namen ist eben noch keine Garantie für die Qualität eines Theaterabends!

 

https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/premieren/die-empoerten/

https://www.salzburgerfestspiele.at/p/die-empoerten


Die besondere Art des Aneinander-Vorbei-Redens

 

Georg Schmiedleitner über seine Regie- und Leseerfahrungen

mit dem Autor Ödön von Horváth

 

Welche Stationen der Begegnung / Auseinandersetzung mit Ödön von Horváth (als Leser, als Besucher von Theateraufführungen, als verantwortlicher Regisseur) fallen Ihnen ein?

Meine erste Begegnung als junger Regisseur fand am Anfang der 1990er Jahre in Linz statt. Damals arbeiteten wir an Horváths Frühwerk „Mord in der Mohrengasse“ und brachten eine sehr experimentelle Inszenierung auf die Bühne. Seitdem habe ich bei Horváths bekannten Volksstücken etwa neunmal Regie geführt, z. B. bei den Salzburger Festspielen, im Wiener Volkstheater oder im Nürnberger Staatstheater. Als Zuschauer war ich besonders beeindruckt von Christoph Marthalers Produktion „Kasimir und Karoline“ 1997 in Hamburg und von Martins Kuŝejs Interpretation der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ 1998 ebenfalls in Hamburg.

 

Was reizt Sie als Regisseur an seinen Volksstücken?

In erster Linie die äußerst präzisen und hintersinnigen Dialoge. Auch die Schauspieler merken schon bei den ersten Proben, dass hier eine ganz besondere Art des Miteinander- und des Anein­ander­vorbeiredens stattfindet. Wenn ich die Sätze von Horváth höre wie etwa den von Oskar zu Marianne („Jetzt möcht ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möcht dir mal die Hirnschale herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst“), muss ich sagen, dass er ganz nahe bei Georg Büchner, bei Thomas Bernhard, ja sogar bei Samuel Beckett ist.

 

Wie aktuell ist für Sie das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“?

Ich halte die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für ein zeitloses Werk, das allerdings auch ohne erkennbaren Zeitbezug aufgeführt werden sollte. Man sieht Menschen, die vom Leben überfordert sind, die mit dem Tempo der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr mithalten können. Sie versuchen diesen Konflikt irgendwie zu überspielen und ihr Scheitern durch vordergründiges Sprechen zu übertünchen.

 

Wie gehen Sie als Regisseur mit Horváths Aussage in seiner „Gebrauchsanweisung“ um, in der es heißt, es dürfe kein Wort Dialekt gesprochen werden.

Ich halte Horváths Gebrauchsanweisungen insgesamt für sehr hilfreich und teile die Meinung, dass man die Sprache der Akteure von deutlicher Dialektfärbung freihalten sollte. Gerade bei österreichischen Schauspielern ist es aber sehr schwierig, dies verständlich zu machen, da sie glauben in den berühmten Wiener Schmäh verfallen zu müssen.

 

Wie sehr fühlen Sie sich dem musikalischen Hintergrund des Stücks verpflichtet?

Ich habe bei allen meinen Inszenierungen die musikalischen Vorgaben zum Teil berücksichtigt, habe aber auch durch bewusste Überzeichnung der Lieder, die etwa beim Heurigen gesungen werden, für eine Verfremdung der Wiener Walzerseligkeit gesorgt.

 

Wie viel Tragödie würden Sie bei dem Stück zulassen?

Es gibt unzweifelhaft ausgesprochen tragische Momente: etwa dann, wenn der Zauberkönig nach Mariannes Auftritt in der Bar Maxim erklärt „ich bin in einer Untergangsstimmung“ um dann fortzufahren „jetzt möchte ich Ansichtskarten schreiben, damit die Leut vor Neid zerplatzen, wenn sie durch mich selbst erfahren, wie gut dass es mir geht“. Marianne kommt dann mit ihm ins Gespräch und erklärt, dass ihr Sohn seinen Namen Leopold trägt.

 

Wie erklären Sie Horváths Leitmotiv von der menschlichen Dummheit („nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit“)?

Es handelt sich nicht um das, was man herkömmlich als Dummheit bezeichnet, es ist vielmehr die angelernte Sprache, jene Kalendersprüche, mit denen die Menschen kommunizieren. Ich sehe da Parallelen zu der heutigen virtuellen Realität, wo die Leute via Twitter, Facebook und Instagram in einer drastisch verkürzten und damit auch deutlich weniger reflektierenden Sprache unterwegs sind.

 

Wie erklären Sie die Horváth-Renaissance einerseits und die Brecht-Flaute andererseits auf den deutschsprachigen Bühnen nach 1965?

Als Regisseur muss ich einfach feststellen, dass einem Horváth viel mehr Freiheiten lässt, dass der Raum für Interpretationen und Variationen viel größer ist. Wenn man Brecht inszeniert, ist man sehr stark von dem ideologischen Hintergrund und von dessen Dramenkonzeption gebunden. Das geht wahrscheinlich außer mir auch anderen Theaterschaffenden so.

 

Wie gehen Sie mit einer Theaterkritik um, die beispielweise schreibt: Es „fehlt Schmiedleitner ein entscheidender Zugriff auf das Stück. Drei Stunden lang wird nicht deutlich, was ihn an Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ eigentlich interessiert“ (Wien 2008)?

Das hat mich schon getroffen, ich habe es nicht mit Freude gelesen. Allerdings wurde ein paar Wochen später die Aufführung als „Kult“ tituliert. So unterschieden sich die Ansichten.

 

Das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist in einigen Bundesländern verpflichtende Lektüre für das Abitur. Sollte man ein solches Theaterstück im Unterricht nur lesen, ohne je eine Inszenierung gesehen zu haben? Ist Horváths Volksstück auch für eine Schülerbühne geeignet?

Grundsätzlich finde ich es gut, dass in der Schule Theaterstücke von Horváth gelesen werden. Man sollte im Unterricht allerdings unbedingt auch Raum lassen für Versuche einer szenischen Lesung, um den Schülern ein Gefühl für die Tiefe der Horváthschen Dialoge zu geben. Noch besser ist natürlich - wenn möglich - der Besuch einer Aufführung, die Anlass zu Diskussion gibt. Ob die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für eine Schülerbühne geeignet sind, wage ich zu bezweifeln. Denn es scheint mir für Amateure schwierig, die Abgründigkeit einiger Charaktere adäquat umzusetzen.

 

Das Gespräch wurde am 23.5.2019 in Nürnberg geführt


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Der Sandmann     ***

von E.T.A. Hoffmann (in einer Fassung von Clara Weyde und Brigitte Ostermann)

Inszenierung: Clara Weyde

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 1.6.2019

 

Ach, waren das noch (gute?) Zeiten, als im Theater Bühnenstücke aufgeführt wurden, die dafür geschrieben, mit Regieanweisungen versehen und von themenbezogenen Dialogen angetrieben wurden. Doch spätestens seit Elfriede Jelineks Textflächen und den Erfolgen der szenischen Umsetzung von Bestseller-Romanen wie „Tschick“ und „Auerhaus“ wird alles Geschriebene, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, von ambitionierten DramaturgInnen auf Bühnentauglichkeit untersucht und im Rahmen einer kreativen Textwerkstatt präsentiert.

So nun auch E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“, eine feinsinnige, hintergründige Erzählung aus dem Jahr 1816, die das Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen dunklen Mächten und menschlicher Vernunft ausleuchtet. Diesen Klassiker der schwarzen Romantik, der in ein paar Tagen auch im Münchner Residenztheater seine Premiere erleben wird, haben Clara Weyde und Brigitte Ostermann für die Nürnberger Staatstheater-Bühne zugerichtet, wobei die negative Konnotation des Verbs „zurichten“ für diese Produktion gar nicht so abwegig erscheint. Mit gehörigem Assoziations-Aufwand wird die kleine Prosa-Erzählung nach allen Regeln der Kunst bebildert, ohne dabei jemals die Substanz der bloßen Lektüre zu erreichen. Die Schauspieler stecken in Kostümen, die an Fliegermonturen des frühen 20. Jahrhunderts erinnern, die Bühne (von David Hohmann) zeigt sich als dunkel verholzte Aussegnungshalle, in der sich einmal der Blick auf Caspar David Friedrichs nachgestelltes Gemälde „Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung)“ öffnet. Das Ensemble übt sich in gar wunderlichen Choreografien (erdacht von José Hurtado) - sei es als Mönchskutten-Polonaise, als barocke Tanz-Formation oder als Electropop-Zappelphilippiade - und erinnert auch wegen der uniform geschminkten Gesichter an Robert-Wilsonhaftes Figurentheater (der übrigens schon 2017 bei den Ruhrfestspielen den „Sandmann“ auf die Bühne gebracht hat). Die originelle Textstruktur von Hoffmanns Erzählung wird einer grundlegenden Umstellung unterzogen und mit zahlreichen Variationen angereichert. Deshalb mutiert der menschliche Automat Olimpia (Pauline Kästner in einer bemerkenswerten Rollenstudie) zur living doll, zu einem Produkt der künstlichen Intelligenz, angelehnt an die häusliche Befehlsempfängerin Alexa oder an aktuelle Pflegeroboter. Die Hauptperson Nathanael (Maximilian Pulst) verfolgt das traumatische Geschehen als lebendige Leiche, die aus dem Sarg hüpft und in sprunghaften Rückblicken die eigene Krankheitsgeschichte nacherlebt. Als Professor Spalanzani bekommt Sacha Tuxhorn wieder einmal die Möglichkeit, einen seiner wirren, aber fesselnden Monologe abzuliefern; auch einige Kollegen dürfen Sprachspielerisches weitgehend sinnfrei ausprobieren.

Für die Augen, jenem zentralen Symbol der Geschichte, wird also allerhand geboten; wer aber ohne vorherige Lektüre oder qualifizierte Einführung ins Theater geht, dürfte ansonsten nur Bahnhof verstehen und in einer „zerrissenen Stimmung des Geistes, die … alle Gedanken verstört …“ die Räumlichkeiten nach 95 pausenlosen Minuten wieder verlassen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/der-sandmann/02-06-2019/1900


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Herzliches Beileid      ***

von Georges Feydeau

Inszenierung: Dieter Dorn

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 10.5.2019

 

Am Anfang scheint noch alles in bester Ordnung: Madame Yvonne steckt wohlgefüttert in ihrer Bettenburg (oder: Matratzengruft), höchst poetisch umhüllt von einem riesigen Chiffon-Vorhang. Doch dann klingelt es heftig an der Tür, draußen steht kein Feuerwehrmann (wie in Ionescos „Kahler Sängerin“), sondern der spätheimkehrende Ehemann Lucien, der leicht derangiert nach einem ausschweifenden Künstlerball um vier Uhr früh seine Wohnung ansteuert, jedoch seinen Schlüssel vergessen hat. Das Chiffon-Zelt verschwindet ansehnlich in Richtung Hinterbühne, übrig bleibt ein Schlafzimmer in einer Bühnen-Pappschachtel (arrangiert von Peter Nitzsche) als Austragungsort einer deftigen Zimmerschlacht. Denn die Eheleute sind sich in wohliger Abneigung zugetan und lieben es, sich gegenseitig künstlerische oder körperliche Defizite an den Kopf (d.h. bei Lucien: an die Ludwig-XIV-Perücke) zu werfen. Darunter leidet auch das verhuschte Dienstmädchen Annette (Süheyla Ünlü), die nun das Bett räumen, Kamillentee servieren und Garderobe bereitstellen muss. Die launige Groteske erlebt ihren Höhepunkt, als der Diener Joseph (Yascha Finn Nolting) die Nachricht vom plötzlichen Tod der (Schwieger-) Mutter überbringt. Soll man sich nun über die anstehende Erbschaft freuen oder einen Menschen betrauern, den man vor kurzem noch als „Kamel‘“ tituliert hat? Am Ende - und das heißt schon nach 70 Minuten - kommt es in der Tradition der Verwechslungs-Salon-Komödie jedoch ganz anders.

Schauspieldirektor Gloger hat für diesen Abend seinen Münchner Lehrmeister Dieter Dorn (83) gewinnen können; dieser wollte allerdings die französische Miniatur mit Becketts „Glückliche Tage“ koppeln und damit sozusagen die Szenen einer Ehe ins absurde Universum der 1960er Jahre weitertransportieren. Doch nach einem Einspruch von Becketts Erben (klingt wie der Name einer Neo-Gothic-Band?) musste Dorn umdisponieren und sich auf die boulevardeske, im Humor aber recht bittere Komödie konzentrieren. Dies tut er mit dem konventionellen Regie-Florett sowie einer präzisen Sprach- und Personen-Führung. So entstehen - auch dank Ulrike Arnold und Thomas Nunner - zwei eindrucksvolle Charakterbilder, die es nicht beim Klamauk bewenden lassen: der mittelständische Buchhalter, der gerne am Busen der großen Kunst schnuppern würde, und die fallsüchtige Ehefrau, die ihre Brüste nicht mit Kleiderhaken verglichen haben möchte. Am frühen Ende gibt es langen Beifall und das wirkliche Bedauern über die verhinderte Verlängerung mit Sandburg, Winnie und Willie.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/herzliches-beileid/16-05-2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Lazarus         ****

von David Bowie und Enda Walsh

Inszenierung: Tilo Nest

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 2.2.2019

 

Vor drei Jahren hat sich David Bowie von dieser Welt verabschiedet. Seine letzten künstlerischen Lebenszeichen waren das Album „Black Star“ mit der Single „Lazarus“ und einem dazu gehörigen vieldeutigen Video-Clip. In Zusammenarbeit mit dem irischen Dramatiker Enda Walsh konzipierte er das szenische Projekt „Lazarus“, das man Musical nennen soll - aber nicht muss. Nürnberg ist nun nach Düsseldorf, Hamburg und Bremen die vierte Aufführungs-Station der deutschen Textfassung.

Der Berliner Tilo Nest ist für die Inszenierung verantwortlich und hat dafür ein buntes Assoziations-Arsenal ausgepackt, das zum Glück nicht den Anspruch erhebt, irgendetwas abschließend zu erklären. Der Schauplatz mit seiner grau-nebligen Wartesaal-Atmosphäre erinnert an Andre Hellers Verszeile von New York als einem Fundbüro, bei dem sich die Verlorenen selber abgeben. Aber: „This is not America“, das ist die fiebrige Traumwelt, das ist die Passionsge­schichte des Thomas Jerome Newton, der von der Schwerkraft der Erde gefesselt ist und an irreversibler Welt-Fremdheit leidet. Er ist ein leichenblasses Phantom, jedoch nicht der Oper, sondern des Alltags. In seinem Gin-getränkten Kopf spielt sich ein ziemlich wirres Kino ab, das manchmal wie Botho Strauß‘ „Paare, Passanten“, manchmal wie „Star Trek“ und manchmal wie „E.T.“ wirkt. Sascha Tuxhorn, ein Schauspieler der den Satzbruch zum grandiosen Stilmittel ausdeuten kann, präsentiert die Hauptrolle keineswegs als David-Bowie-Klon, eher wirkt er wie eine Mischung aus Arthur Millers Handlungsreisendem und Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann.

Erinnerungen an eine Mary Lou werden durch den Song von Ricky Nelson zitiert, ein mephistophelischer Valentine (auch vokal sehr präsent: Nicolas Frederick Djuren) verweist auf die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, an die Ambivalenz von eros und thanatos. Menschen tauchen auf, die helfen wollen, aber keinen Zugang finden: der „Sozialarbeiter“ Michael (Frank Damerius), die unglücklich verliebte Elly (Lea Sophie Salfeld) und schließlich das irreale Mädchen (Pauline Kästner). Letztere baut verträumt mit Klebeband eine Rakete, um gemeinsam die Erde zu verlassen, was aber natürlich zum Scheitern verurteilt ist. Im Mittelpunkt des zweistündigen Abends steht eindeutig die Musik von David Bowie, 17 Songs aus den letzten fast fünfzig Jahren (von „The Man Who Sold The World“ bis „No Plan“), getragen durch eine soundstarke Acht-Personen-Live-Band und den putzigen Backgroundchor der Teenage Girls rund um die beiden musikalischen Leiter Vera Mohrs und Kostia Rapoport. Stefan Heyne reizt die Möglichkeiten der Nürnberger Bühnenmechanik dankbar aus, Nebel- und Windmaschinen sowie Video-Projektio­nen (letztere allerdings in Ermangelung einer sinnvollen Projektionsfläche verschenkt!) sind ja eh schon Standard-Zugaben.

Eines ist sicher: zu diesem Musical werden keine Pauschal-Touristen mit Fernbussen chauffiert, dafür könnten aber David-Bowie-Fans, ernsthafte Schauspiel-Gänger und Suchende aller Art an dem bildstarken Spektakel Freude haben. Das resignative Nachwort ergibt sich aus den „Hope“-Kritzeleien im Bühnenbereich: „die Hoffnung stirbt zuletzt, aber auch sie stirbt!“ Faszinierend, aber sehr, sehr rätselhaft! Langanhaltender Beifall des Premieren-Publikums.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/lazarus/12.02.2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Das Ding      ***

Von Philipp Löhle

Inszenierung: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 15.11.2018

besuchte Vorstellung am 19.1.2019

 

Das Ding ist nicht ganz neu: schon 2011 wurde das Stück von Philipp Löhle geschrieben, dann brachte es Jan Philipp Gloger am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und bei den Ruhrfestspielen auf die Bühne. Nun also ist das Ding mit dem Theaterdirektor, mit seinem Hausautor Löhle und mit dem Schauspieler Janning Kahnert nach Nürnberg gewandert. Das Ding ist eine Baumwollsaat mit weißen Flusen drumrum. Das Ding ist aber gleichzeitig ein Dingsymbol für die Globalisierung. Und somit ist „Das Ding“ eine leicht komödiantische oder groteske Globalisierungs-Parabel, die zeigt, wie vieles mit vielem vernetzt ist, wie manches rund um die Welt ge- und verhandelt wird.

Das Stück beginnt mit einem szenischen Prolog vor etwa 500 Jahren, als der portugiesische Kapitän Magellan unter spanischer Flagge die erste WorldWideUmsegelung schaffte. Dann aber übernimmt das eigentliche Ding die Hauptrolle: es wird in Afrika geerntet, nach China verschifft, dort zum einem Sporttrikot verarbeitet, von einem deutschen ambitionierten Hobby-Fußballer (Maximilian Pulst in der Rolle des Patrick) getragen, von einem liebestollen Chinesen durchschossen und schließlich als Restmüll wieder nach Afrika weitergeleitet.

Fünf Schauspieler schlüpfen auf der schmucklosen Bühne in ca. zehn Rollen, bedienen sich aus zwei Kartons mit Perücken und anderen Kopfbedeckungen und bringen mit viel Engagement und komödiantischem Talent den doch etwas konstruiert wirkenden Text zum Leben. Es vermischt sich Privates - die Ehekrise von Katrin (Anna Klimovitskaya) und Thomas (Tjark Bernau) - mit Weltpolitischem, ein Zufallsfoto aus dem Kinderzimmer eines verstorbenen Mädchens wird zum viel diskutierten Ausstellungsstück in Museen und der Schweizer Beat handelt nach einer Pleite bei Bio-Saaten mit abgewrackten Bürgerkriegs-Waffen. Ganz klar(?): die Gleichzeitigkeit von Globalisierung und Neuer Unübersichtlichkeit bestimmt unser Leben! Löhle stellt sein Handlungs-Puzzle ohne didaktischen Zeigefinger zur Diskussion und Regisseur Gloger erzeugt ohne großen Aufwand etwas, was man kritische Unterhaltung nennen könnte.

Mittlerweile gibt es ein von Philipp Löhle mit afrikanischen Schauspielern erarbeitetes Parallelstück („Das Dong“) - fehlt nur noch ein Stück über den chinesischen Politiker („Der Deng“) und über das Pro und Contra von Biogas („Der Dung“)! Dingeling!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/das-ding/26.01.2019/1930


Der erste Mensch     ****

von Albert Camus

Inszenierung: Michael Mühleis (ensemble.sagas)

mit Joachim Król

Stadttheater Fürth (20.1.2019)

 

Vom Tellerwäscher zum Millionär? Keineswegs: vom bildungsfernen Kind im Armenviertel von Algier zum Literaturnobelpreisträger; das ist die unglaubliche (?) Geschichte von Albert Camus. Joachim Król präsentierte diese Erfolgsstory als musikalisch unterlegte Bühnen-Lesung im voll besetzten Fürther Stadttheater.

Als der Wagen des Verlegers Michel Gallimard am 4. Januar 1960 auf der Strecke von Paris in die Provence auf einen Alleebaum prallte, bedeutete dies auch das Ende des Beifahrers: des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus. Auf dem Rücksitz überlebte aber ein 144seitiges Manuskript in einem Lederkoffer, das erst 34 Jahre später unter den Titel „Der erste Mensch“ erschienen ist. Mit diesem Roman wollte der Literatur-Nobelpreisträger Camus (geboren 1913) eine Suche nach seinen familiären Wurzeln und nach seinem Aufwachsen in der französischen Kolonie Algerien unternehmen. Er erfand dazu die Kunstfigur Jacques Cormery, das alter Ego des Verfassers, der sich als 40jähriger am Soldatengrab seines Vaters in die Vergangenheit zurückversetzt.

Martin Mühleis vom ensemble.sagas interpretiert diesen Text als exemplarischen Bildungs­roman, er konzentriert sich auf Passagen, die zeigen, wie es der kleine Jacques/Albert schafft, die bildungsferne Welt der Mutter (als Analphabetin) und der Großmutter (als gestrenges Familienoberhaupt) durch den Übertritt an ein Gymnasium in Algier zu verlassen und seine Lust auf Lernen, Lesen und Erkenntnis zu stillen. Schlüsselfigur (und Ersatz-Vater) ist dabei der Volksschullehrer Germain, der die Talente des Zehnjährigen erkennt, ihm ein Stipendium verschafft und damit die Bedenken der Großmutter zerstreut.

Im Mittelpunkt der literarischen Bühnenproduktion steht der vor allem als Frankfurter Tatort-Kommissar bekannte Schauspieler Joachim Król. Er sitzt hinter einem Lesepult auf einem hohen Barhocker und trägt mit großem stimmlichem und körperlichem Einsatz die Geschichte des kleinen Jacques vor. Mit Händen und Füßen verdeutlicht er die einzelnen Szenen: den Jagdausflug mit Onkel Etienne, die ritualisierte Kommunion, die Aufnahmeprüfung für das Lyzeum, die Preisverleihung an den herausragenden Schüler und die wenig erfreuliche, aber finanziell notwendige Ferienarbeit. Umrahmt wird Król von dem fünfköpfigen „Orchestre du Soleil“, das mit Akkordeon, Oud, Klarinette, Bass und Perkussion einen maghrebinischen Klangteppich als Hintergrund bereitstellt.

Der Theaterabend, den auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt, verbreitet eine positive Grundstimmung, eine Hoffnung auf Bildungs-Chancen­gerechtigkeit jenseits aller sozialen Unterschiede und entgegen allen zweifelnden OECD-Gutachten. Getrübt wird diese Atmosphäre nur durch die nervige dreimalige Warteschleife hinterher: an der Garderobe, am Kassenautomaten und an der Ausfahrt der Tiefgarage!

 

https://www.sagas.de/kuenstler/joachim-krol

 

Zum Nachlesen: Albert Camus: Der erste Mensch. Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek 1997), 288 Seiten, 10,00 €


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Der Zorn der Wälder      *****

von Alexander Eisenach

Inszenierung: Kieran Joel

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 5.10.2018

besuchte Vorstellung am 29.12.2018

 

Ist es möglich, einen politisch-philosophischen Diskurs in den Handlungsrahmen eines schwarzen Krimis der 1920er Jahre zu stecken und damit einen kurzweiligen dramatischen Abend auf der Bühne zu gestalten? Den schlagenden Beweis für diesen literarischen Spagat liefert „Der Zorn der Wälder“, ein Text von Alexander Eisenach, der 2017 als Auftragsarbeit für das Theater Bonn entstanden ist.

Darin geht es vordergründig um einen Auftrag für den Privatdetektiv Gordon Pritchett, der nach dem verschwundenen Bestattungsunternehmer Carl Carsons fahnden soll - Auftraggeber ist dessen Frau Emma. Doch mit zunehmenden Naschforschungen zeigt sich, dass der Fall kaum eine kriminalistische Seite und nur ganz am Rande einen Eifersuchts-Aspekt hat, sondern dass es vielmehr um das Projekt eines Individuums geht, der sich zum Ausstieg aus den menschenunwürdigen Bedingungen des Kapitalismus entschlossen hat, und glaubt, mit einem Rückzug in die Wälder sein Nein zur modernen Gesellschaft artikulieren zu müssen. Diese Position, die stark an „Walden“, die Aussteigerbibel von Henry David Thoreau aus dem Jahre 1854 angelehnt ist, die gleichzeitig mit dessen anderer These von der Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat operiert, muss sich im Laufe der Inszenierung immer wieder - auch mit Blick auf aktuelle Entwicklungen - hinterfragen lassen. Auch jene tendenziell elitäre These von den Grenzen der Mehrheitsdemokratie und dem Recht des Individuums auf Widerstand steht auf dem Prüfstand der Bühne.

Die Nürnberger Aufführung ist hervorragend getragen durch ein originelles Regiekonzept von Kieran Joel und dem präzisen fünfköpfigen Ensemble (Anna Klimovitskaja, Stephanie Leue, Yascha Finn Nolting, Süheyla Ünlü und Cem Lukas Yeginer). Auf der schwarzen Kammerspielbühne (von Matthias Koch) stehen lediglich ca. 25 Straßenlaternen mit unterschiedlichem Neigungswinkel, die als Großstadt-Dickicht, als Lichtspiel und als Table-Dancing-Stange genutzt werden können. Die fünf Akteure stehen als permanenter Chor auf der Bühne, setzen mit beigem Trenchcoat, schwarzem Schlapphut und Zigaretten-Chorographie nostalgische Bezugspunkte zum Film-Genre. Durch kleine Details werden die einzelnen Personen der Handlung sichtbar, insgesamt aber fühlt sich der Zuschauer einem spät-antiken Chor ausgesetzt, der zum Nachdenken, zum Reflektieren auffordert. So macht Gesellschaftskritik und Kritik der Gesellschaftskritik Spaß! Ein kompaktes 70minütiges Theatererlebnis, das dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/der-zorn-der-waelder/05.01.2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Macbeth    ****

Von William Shakespeare

Inszenierung: Philipp Preuss

Premiere am 8. 12. 2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Machtgeile Autokraten stehen hoch im Kurs - auch im Theater. Deshalb ist er wieder da, zum Beispiel auf den aktuellen Spielplänen in München, Berlin oder Hannover: Macbeth, der legendäre Usurpator des Königsthrons von Schottland. Das Schauspielhaus Nürnberg macht jetzt aus dem klassischen Stoff ein Shakespeare-Kompaktstudium mit der Repeattaste.

Um es gleich vorweg zu sagen: wer sich von diesem Abend eine linear nacherzählte Geschichte des blutrünstigen Triebtäters und gewaltbereiten Tyrannen erwartet, muss sich wie im falschen Film vorkommen. Denn Regisseur Philipp Preuss hat in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Sascha Kölzow etwas ganz anderes vor. Er nimmt die Shake­speare-Tragödie als Fundgrube für Textbausteine („Ich habe die Tat getan“, „Blut will Blut“), schrumpft die Handlung und das Personal auf ein Minimum ein und lässt die destillierte Essenz in einer Art Endlosschleife ablaufen. In der Musik nennt man das Loop, wenn eine kurze Tonfolge eingespielt, dann mehrfach wiederholt und mit anderen Sequenzen vermischt wird. Die Reaktion ist wie bei einer alten Vinyl-Schallplatte, die einen Sprung hat, oder bei der Warteschleife des Telekom-Kundenservice: es wirkt entweder nervig oder bewusstseinserweiternd.

Die männlichen Hauptfiguren der Inszenierung sind nur König Duncan, Macbeth und sein ursprünglicher Kompagnon Banquo. Diese werden im rastlosen Rotationsprinzip von vier Schauspielern mit großem physischen Einsatz dargestellt: Julia Bartolome, die in der Vergangenheit schon als Richard III. ihren Mann gestanden hat, Yascha Finn Nolting, Felix Mühlen und Raphael Rubino. Zu ihnen gesellt sich als einzige klar identifizierbare Einzelperson die Männer-Flüsterin Lady Macbeth von Lisa Mies. Mit jenem Personen-Quintett wird in sechs Schleifen das Geschehen bis zur Ermordung des Königs Duncan durch Macbeth nachgespielt und die Wiederkehr der bösen Tat repetitiv bestärkt. Redundanz als Lehr-Methode?

Nur die Kostüme und der Zeitbezug ändern sich: beim ersten Loop fühlt man sich ins 17. Jahrhundert versetzt, beim zweiten ins Ende des 19. Jahrhundert, beim dritten in die Gegenwart. Und weil im entscheidenden Moment jeweils ein steter Blutstropfen vom Bühnenhimmel herabfällt, gewinnt auch die Farbe Rot an Dominanz.

Die Bühne von Ramallah Sara Aubrecht präsentiert sich als goldglänzender Echokammer-Käfig mit wenigen Utensilien: drei Bäume (Wald von Birnam?), ein Flügel, drei Mikrofone, fünf Kronen und zwei Bluteimer. Die verzerrten und in Wiederholungen zerhackten Stimmen der Schauspieler ergeben zusammen mit einem bedrohlich an- und abschwellenden Hintergrund-Sound (eingespielt von Mitgliedern des Opernchores des Staatstheaters) eine beklemmende akustische Dimension.

Im zweiten Teil der pausenlosen 105 Minuten entledigen sich die Akteure ihrer Pelzmäntel und sind reduziert auf die anfangs noch weiße Unterwäsche, bilden aber bald ein blutiges Gruppenbild mit Dame. Das ist der Moment für die Ausrufung des heimlichen Mottos dieser Aufführung: „Horror, Horror, der Wahnsinn hat sein Meisterstück vollbracht“ sowie für ein wildes Puzzle aus Shakespeare-Zitaten und weiteren Assoziationen. Nun darf auch Sascha Tuxhorn als sprachmächtiger, närrischer und stark alkoholisierter Pförtner den Ausflug in den Nihilismus des absurden Theaters wagen und seinen komödiantischen Monolog („Es war einmal …“) mit einer Hamlet-artigen Kopf-Kamera und ein bisschen Klavier-Geklimper untermalen. Er deutet das Leben - natürlich auch das Stück - als „Märchen, von einem Narren erzählt, voller Schall und Wut und ohne Bedeutung“.

Wer sich auf die besondere Regiesprache des Österreichers Philipp Preuss, der gerne im Schnittfeld von darstellender und bildender Kunst arbeitet, einlässt, wird belohnt: Shakespeares resignativer Blick auf die ewige Wiederkehr von Gewalt, Macht, Intrigen und Skrupellosigkeit erfährt durch diese Dramaturgie der Warteschleife eine stimmige und bildstarke Aktualisierung. Ein lebendes Gemälde über die Verrohtheit der Welt ohne erhobenen Zeigefinger.

Allerdings: Im Original öffnet sich durch den Ausblick auf den jungen Malcolm ein Fenster der Hoffnung. Diese vielleicht doch noch optimistisch stimmende Wendung verweigert die experimentierfreudige Nürnberger Inszenierung, die mit dem ehrlichen Titel „Macbeth - deconstructed & reconstructed“ besser angekündigt worden wäre. Längerer Beifall eines teilweise ratlosen Publikums. Danach kommt die Zeit der Reinigungskräfte und der Weißwäscher.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/macbeth/24.01.2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Musik war schuld.

Ein Nürnberger Liederabend   ***

von Selen Kara und Vera Mohrs

Inszenierung: Selen Kara

Uraufführung am 30.11.2018 (Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele)

 

Wenn Neu- oder Gast-Nürnberger von der Direktion den Auftrag bekommen, einen Liederabend mit Bezug zu Nürnberg zu machen, kann das merkwürdige Formen annehmen: von Anbiederung bis zu Ahnungslosigkeit. Keines von beiden ist Vera Mohrs, der neuen Musikverantwortlichen im Schauspiel, und Selen Kara passiert, dennoch atmet ihr szenisches Song-Konzept etwas Bemühtheit, etwas Suchendes, aber nicht so recht Findendes, etwas Lavierendes - eben ein Bühnen-Experiment, das nur zum Teil gelungen ist. Man mag sich darüber freuen, dass weder Bratwürste, Lebkuchen, Clubsongs noch Burg-Panoramen, Trichter oder Weihnachtsmärkte vorkommen, dafür ist der Blick aus der Perspektive einiger Nürnberger Randfiguren oder ironischer Spötter reichlich spröde und arg gekünstelt in eine Rahmenhandlung verpackt.

Die Bühne (Lydia Merkel) ist eingerahmt mit mittelalterlichen Felsengängen, davor sitzen, singen und spielen die sechs Akteure - gedresst und geschminkt wie zu einer Rocky Horror Picture Show - um den Brunnen, der an Jürgen Webers „Ehekarussell“ erinnern soll, jenes damals höchst umstrittene Kunstwerk, das im Auftrag von Baustadtrat Otto Peter Görl (nicht: Wöhrl) gestaltet und 1984 am Weißen Turm aufgebaut wurde. Mit gewisser Distanz beobachtet der „Kaffehaus-Literat“ Hermann Kesten (Adeline Schebesch) von einem Bistrotisch aus das Geschehen und kommt am Ende zu dem dialektischen Fazit: „Ich fühle mich in keiner Stadt der Welt so zu Hause wie in Nürnberg. Und in keiner Stadt der Welt so fremd.“ Die Songs - sparsam mit E-Piano und kleinen Perkussions-Geräten arrangiert - decken eine weite Spanne von Hans Sachs bis Bob Dylan, von Richard Wagner bis Rio Reiser ab, von dem Liedermacher Gymmick stammt eine deutsche Textfassung für Alicia Keys‘ „Empire State Of Mind“, in der aus New York Nürnberg, aus einer Metropole ein Provinznest wird. Haikus des Nürnberger Volkschullehrers Waldemar Graser wurden vertont und dem Bob-Marley Reggae „No Woman No Cry“ das Harmonieschema eines Pachelbel-Kanons übergestülpt.

Das Ensemble präsentiert sich spielfreudig und stimmlich unterschiedlich präsent; nur Lea Sophie Salfeld und Vera Mohrs merkt man einen professionellen Gesangs-Hintergrund an. Ob dieser Abend mit früheren Dauerbrennern wie „Ewig jung“ oder „Sekretärinnen“ mithalten kann, darf trotz Zugabe bei der Premiere bezweifelt werden.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-musik-war-schuld-ua/06.12.2018/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Meisterklasse      ****

von Terrence McNally

Inszenierung: Manuel Schmitt

mit: Annette Büschelberger u.v.a.

Premiere am 14.11.2018

(Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Eine gealterte Primadonna gibt zum Ende ihrer Karriere Unterricht für aufstrebende Gesangs-Solisten. Es sind jene Meisterklassen, die am Anfang der 70er Jahre in New York stattfanden, geleitet von Cecilia Sophia Anna Maria Kalogeropoulos, die noch einmal den öffentlichen Focus auf „die Callas“ richteten und Terrence McNally zu einem originellen Kammerspiel inspirierten, das 1995 uraufgeführt wurde. Er gestaltet die kurzweilige Unterrichtsstunde für drei SängerInnen zu der Charakterstudie einer launischen Diva, einer kapriziösen Anti-Pädagogin, einer Musik-Süchtigen, die im Wesentlichen die höchst ironische Parole ausgibt „Es geht hier nicht um mich!“ Natürlich ist das genaue Gegenteil der Fall: die drei Eleven , die Sopranistin Nayun Lea Kim, die Sopranistin Rafalela Fernandes und der Tenor Chang Liu - Mitglieder des Internationalen Opernstudios Nürnberg, bzw. Mitglieder des Ensembles des Staatstheaters Nürnberg - sind nur auswechselbare (aber stimmlich durchaus beeindruckende!)Marionetten für eine selbst bezogene Lehrerin, die ihre Schützlinge mit harten Urteilen demotiviert, sich gerne vom Smartphone und vom putzigen Pudel Alfredo ablenken lässt und bald in Gedanken in ihre eigene ruhmreiche Vergangenheit abschweift. Die zweistündige Lehrstunde bietet eine Paraderolle für Annette Büschelberger, die diese mit souveräner Präsenz bis zur Zerstörung des eigenen Denkmals ausfüllt. Mit diktatorischer Geste degradiert sie den Pianisten (Francesco Greco) zum subalternen Bediensteten und die Gesangsschüler zu verschüchterten Jungspunden. Im großen Haus, das durch die Holzverschalung der Vor-Bühne (Bernhard Siegl) etwas intimen Charakter erhält, ist das Premieren-Publikum sehr angetan und hält sich ganz und gar nicht an die schroffe Anweisung der Hauptdarstellerin: „Keinen Applaus bitte, wir sind hier um zu arbeiten.“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/meisterklasse/05.12.2018/1930


Ein Volksfeind    ****

von Henrik Ibsen (deutsche Neufassung von Frank-Patrick Steckel)

Inszenierung: Jette Steckel

mit: Joachim Meyerhoff, Mirco Kreibich u.v.a.

Premiere am 18.11.2017 (Burgtheater Wien)

besuchte Aufführung am 24.10.2018

 

Als Henrik Ibsen seinen "Volkfeind" 1882 zur Uraufführung brachte, wusste er noch nichts vom Unkrautvernichter Glyphosat, von der Nitrat-Belastung des Grundwassers, vom Feinstaub und vom Ruß, den Diesel-Motoren ausstoßen, von Kohlekraftwerken, die unsere Klimaschutz-Ziele torpedieren. Wahrscheinlich war auch das verunreinigte Wasser in einem norwegischen Kurbad nur der Aufhänger, um etwas ganz anderes zu zeigen: eine kritische Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft und der Presse im Konflikt zwischen Interessen und Wahrheit. Nachdem nun heute sowohl die Umweltbelastung als auch die Suche der Öffentlichkeit nach belastbaren Fakten im Zentrum der politischen Agenda stehen, spricht vieles dafür, das Stück in einer aktualisierten Version auf die Bühne zu bringen.

Im Wiener Burgtheater tun dies Vater Frank-Patrick Steckel, der mit seiner deutschen Neufassung unsere vielgerühmte "Zivilisation" untersuchen will, und Tochter Jette Steckel, die den Text einfallsreich szenisch bebildert. Im Mittelpunkt stehen die beiden Antagonisten: der Badearzt Tomas Stockmann (Joachim Meyerhoff), der den Weg vom kritischen Reformer zum rebellischen Außenseiter glaubhaft verkörpert. Am Anfang genießt er noch die reinigende Kraft des Wassers, bald aber intoniert er am Esstisch mit seiner Familie den Michael-Jackson-Song "Man In The Mirror" mit den Zeilen "If you want to make the world a better place / Take a look at yourself, and then make a change". Nach der Pause springt er sogar aus seiner Rolle und fordert das be- und eventuell auch erleuchtete Publikum auf, eine veränderte Sehweise praktisch zu erproben. Auf der Bühne wird das tumbe Volk von einer bedrohlich wirkenden Schar von Riesenzwergen repräsentiert, die auf die leidenschaftliche (aber auch ambivalente) Rede des Arztes mit Schweigen und dem Druck der Masse reagieren.

Ganz anders die Überzeugungskraft des aalglatten Bürgermeisters Peter Stockmann (Mirco Kreibich), der seine rhetorisch gefeilten Argumente mit einer Eiskunstlauf-Kür unterlegt und für einen Doppelaxel Szenenapplaus bekommt. Merke aber: wir bewegen uns auf dünnem Eis, das auch noch unwiderruflich zu schmelzen droht!

In einem teils ironischen, teils Mut machenden Happy End wird schließlich das Rettende erwähnt: der das Badewasser verschmutzende Ledergerber Morten Kiil (Martin Schwab) erkennt plötzlich in seinen Enkeln seine Verpflichtung für die Zukunft und Nachhaltigkeit und legt ein halbwegs glaubhaftes Konzept für die Sanierung seiner Chemie-Pfütze vor, nicht ohne allerdings stolz vom finanziellen Erfolg seiner Aktienspekulationen mit dem Kurbad zu berichten. Und so erhält das Prinzip Hoffnung und der Optimismus (wie übrigens auch in der Originalfassung) noch einmal eine Chance.

 

https://www.burgtheater.at/de/spielplan/produktionen/ein-volksfeind/termine/2018-10-31/982032419/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Komödie mit Banküberfall (DSE)    ****

von Henry Lewis, Jonathan Sayer und Henry Shields

Inszenierung: Christian Brey

Premiere am 20. Oktober 2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

"Alles nur Gauner in dieser Stadt" lautet die abschließende Bemerkung auf der Bühne von Ruth Monaghan aus Minneapolis und dann kommt von den Nürnberger Gaunern im Publikum ein langanhaltender Beifall für eine kaum nachdenkliche, dafür aber umso mehr belachbare Produktion im Schauspielhaus. Aus der Londoner West End-Vorlage macht Regisseur Christian Brey eine temporeiche Nonsens-Revue mit viel Monty-Python-Wortwitz (der auch in der deutschen Übersetzung von Maria Harpner und Anatol Preissler noch zündet!), mit Nackter-Wahnsinn-Slapstick-Dramaturgie, ulkigem Impro-Theater und ein bisschen "Grease"-Musical-Garnierung. An der Jagd auf den Diamanten von Prinz Ludwig beteiligen sich neben Häftling Mitch (Nicolas Frederick Djuren) noch acht andere Akteure, egal ob Bankmitarbeiter, Gefängnis-Aufseher oder Polizeiagenten. Daraus entsteht ein herrlich albernes Verwechslungsspiel mit rasenden Dialogen, schnell wechselnden Bühnenkulissen, akrobatischen Klettereinlagen und ein paar von Lea Saalfeld kess dahingeträllerten Songs der 50er und 6oer Jahre (Musik und Live-Banjo: Thomas Esser). Aus dem gut aufgelegten Ensemble sind besonders Pius Maria Cüppers als Bankdirektor, Maximilian Pulst als Gelegenheits-Taschendieb und Janning Kahnert als bemitleidenswerter Bankangestellter hervorzuheben. Das englische Original erlebte seine Uraufführung 2016 und der Name der Company (Mischief Theatre) ist Programm: alles, was schief gehen kann, geht schief - so auch bei diesem kühn inszenierten Ba-Ba-Banküberfall. Brechts alt-dialektische Frage "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" schwebt als hintergründiges Motiv über dem Ganzen. Jan Phillip Gloger und sein Team haben damit eindrucksvoll bewiesen, dass sie auch die leichte Muse beherrschen, die aber gar nicht leicht zu beherrschen ist. Eindeutig ein Repertoire-Stück mit langem Haltbarkeitsdatum!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/komoedie-mit-bankueberfall-dse/14-05-2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Troerinnen / Poseidon-Monolog     ****

von Euripides

(übertragen von Konstantin Küspert)

Inszenierung: Jan Philipp Gloger

Premiere am 7.10.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Es mag Zufall sein, dass ausgerechnet in diesen Tagen der Friedensnobelpreis an zwei engagierte Menschen verliehen wurde, die „für ihre Anstrengungen, der sexuellen Gewalt als Kriegswaffe ein Ende zu bereiten" geehrt wurden. Genau um dieses Thema geht es auch Euripides in seiner 415 v. Chr. entstandenen Tragödie, in der er das Leid von vier Frauen (und einem Kind) im Rahmen des Trojanischen Krieges eindringlich vorführt. Gleichzeitig geißelt er die Unmenschlichkeit der hochmütig frevelnden athenischen Sieger, insbesondere von Odysseus, Agamemnon, Menelaos und Neoptolemos.

Im Mittelpunkt des Dramas steht die Königin Hekabe, die am Ende eines aus Eifersucht angezettelten Krieges ohne Mann, ohne Söhne, Töchter, Schwiegertöchter und Enkel dasteht, und als Sklavin des Odysseus verschleppt werden soll. Annette Büschelberger gibt dieser Figur zunächst mit schwarzem Business-Kostüm, blonder Perücke, Highheels und Sonnenbrille eine unnahbare Aura, die aber mit den folgenden Schicksalsschlägen Stück für Stück zerbricht: am Ende steht sie mit blutverschmierten Gesicht vor dem Ende ihrer Existenz.

Anders gestrickt ist Kassandra, seit Christa Wolf eine Gallionsfigur der emanzipatorischen Frauenliteratur. Pauline Kästner gibt ihr Anzeichen einer hintergründigen Überlegenheit, im Hochzeitskleidchen artikuliert sie wahnsinnige Rachegedanken. Andromache (Julia Bartholome) ist die zwangsweise alleinerziehende Mutter, die irgendwie versucht, sich in ihrem Schicksal einzurichten, und Helena (Lisa Mies) posiert als laszive, berechnende Marilyn-Monroe-Kopie.

Bühnenbildnerin Marie Roth hat in die schwarze Umgebung einen hellgrauen, abschüssigen Laufsteg gebaut, sozusagen ein Catwalk mit großer Abrutsch-Gefahr - und am Ende geht's ab in die Grube. Diese höchst symbolische Gangway wird von schräg oben mit beeindruckenden Video-Sequenzen (Sami Bill) bespielt. Im Hintergrund untermalen drohende Perkussions-Gewitter und Sphären-Sounds (Kostia Rapoport) das tragische Geschehen.

Die hochkonzentrierten 75 Schauspiel-Minuten werden durch einen Monolog des Poseidon (Michael Hochstrasser) eröffnet, der mit seinen Andeutungen von den Gefahren des Meeres auch heutige Flüchtlingsschicksale andeutet. Konstantin Küspert hat den originalen Euripides-Text angemessen modernisiert, ohne ganz auf Metrik und tragische Emotionen zu verzichten.

Die sehenswerte Produktion ist praktisch eine Wiederaufnahme von Jan Philipp Glogers Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe (2016) - allerdings mit leicht verändertem Personal. Die Kritik lobte damals das Stück als „zeitloses Drama von männlichen Siegern und weiblichen Besiegten“. Im Gegensatz zu der Aufführung der „Perser“ (Aischylos) bei den Salzburger Festspielen 2018 (Regie: Ulrich Rasche), die sich als qualvolles vierstündiges Klagelied entpuppte, ist Gloger die spannende Einladung zum Mitleiden und Mitdenken gelungen - ein weiterer Erfolg für das neue Team des Nürnberger Schauspiels!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-troerinnen-poseidon-monolog/12.10.2018/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Möwe     ****

von Anton Tschechow

Inszenierung: Anne Lenk

Premiere am 29.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Ach ja, die Künstler! Sie verbringen die Sommerferien in noblen Landgütern und haben dabei nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu nerven, theoretische Kunst-Konflikte auszutragen, Beziehungsprobleme auszuwälzen, sich dabei vom sonstigen Personal (Gutsverwalter, Arzt, Lehrer) bildungsbürgerlich anhimmeln zu lassen und dieses gelangweilt zu ertragen. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schriftsteller stehen im Zentrum von Tschechows Komödie, die nach der Pleite bei der Uraufführung 1896 mittlerweile zum Standardrepertoire deutschsprachiger Bühnen gehört.

In Nürnberg nahm Anne Lenk, die hier den Status als „Hausregisseurin“ zugesprochen bekam, den Gattungsbegriff ziemlich wörtlich und konstruierte aus dem melancholischen Stimmungsdrama ein teilweise fast schon grelles Figuren-Tableau, bei dem aber glücklicherweise keine Person zur Karikatur geschrumpft wurde. In dem sehr sparsam gehaltenen Bühnenkasten aus hellgrauen Platten (Judith Oswald) werden die zehn Akteure wie Schachfiguren platziert, die erstarrt auf ihre Einsätze warten. So lenkt fast nichts von der deutlichen (jedoch nicht immer klar verständlichen) Sprache (in der Übersetzung von Thomas Brasch) und von den konkurrierenden Emotionen ab.

Da ist der Mutter-Sohn-Konflikt zwischen der arrivierten Schauspielerin Arkadina (Ulrike Arnold mit divenhafter Attitüde) und dem Sturm-und-Drang-bewegten Jung-Autor Kostja (Cem Lukas Yeginer als Typ, den man eher bei einem Poetry Slam oder an der McDonalds-Theke verorten würde). Da ist des Weiteren die Dreiecksgeschichte zwischen der ambitionierten Jung-Schauspielerin Nina (Pauline Kästner), Kostja und dem Schriftsteller Trigorin (Amadeus Köhli als sanfter Liedermacher mit Hannes-Wader-Repertoire). Mascha, die Tochter des Gutsverwalters (Anna Klimovitskaya) betäubt ihren Liebeskummer mit einer großen Wodkaflasche und muss sich am Ende mit dem von der Sonne verbrannten, aber inhaltlich blassen Lehrer (Tjark Bernau) begnügen. Mit schräger Maske setzen die Kammerschauspieler-Restbestände der Kusenberg-Ära (Michael Hochstrasser, Thomas Nummer) kauzige Akzente. Auch die vom Himmel fallende tote Möwe und der finale Suizid-Schuss von Kostja - „nur ein Zwischenfall“ - können der nonchalanten Alltags-Atmosphäre nicht anhaben: das Bingo-Spiel geht weiter.

Regie und Dramaturgie haben das Stück unter Vernachlässigung der originalen Chronologie auf dichte zwei Stunden gekürzt, die in der Variation von laut und leise, von Monotonie und Ekstase zunehmend fesseln. Ein weiterer Baustein eines vielversprechenden Auftakts der Amtszeit Gloger!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-moewe/11.10.2018/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Ein Stein fing Feuer       ****

„Die kahle Sängerin“, „Die Unterrichtsstunde“ und andere Texte von Eugène Ionesco

Inszenierung: Jan Philip Gloger

Premiere am 27.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Eine erwartungsvolle, gespannte Gruppe von Besuchern versammelte sich zur ersten Premiere im Schauspielhaus. Neuer Direktor, neues Ensemble, neues Design, neue Zielsetzungen („kreative Unruhe“, „überregionale Aufmerksamkeit“) - was könnte das bedeuten?

Vor 18 Jahren hatte Klaus Kusenberg seinen Freund Georg Schmidleitner als Regisseur ins Schaufenster gestellt und mit einer denkwürdigen „Margaretha di Napoli“ Akzente gesetzt. Diesmal inszenierte Direktor Jan Philip Gloger selber und entschied sich für ein Ionesco-Projekt als künstlerische Visitenkarte. Aus zwei Einaktern („Die kahle Sängerin“ und „Die Unterrichtsstunde“) sowie Prosatexten von Ionesco bastelte Gloger einen dreiteiligen (aber pausenlosen) Abend, der die Botschaften des absurden Theaters aus den frühen 50er Jahren mit der oft recht absurden Realität des 21. Jahrhunderts (Fake News, MeToo-Debatte etc.) konfrontierte.

Ionescos Stücke sind eine radikale Absage an die klassische Dramaturgie mit dem Dialog als Triebfeder, sie eignen sich als Musterbeispiele für ein Proseminar „Zum Scheitern der menschlichen Kommunikation“. Tragische Momente erwachsen aus der gnadenlosen Übertreibung der Groteske. Das erste Stück, „Die kahle Sängerin“ könnte eine Vorübung zu „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ oder zu „Gott des Gemetzels“ sein: die Ehepaare Schmidt (Julia Bartholome und Sascha Tuxhorn) und Martin (Lisa Mies und Maximilian Pulst) reden zielsicher aneinander vorbei, haben bemerkenswert abgedrehte Solo-Auftritte und werden in ihrem Nicht-Gespräch letztlich von der Haushaltshilfe (Annette Büschelberger) und vom mehrfachen Klingeln eines Feuerwehrmanns (Frank Damerius) unterbrochen.

Die Szene morpht sodann höchst originell in das nächste Stück („Die Unterrichtsstunde“), bei dem nun das gesamte Wohnzimmer-Interieur an einer senkrechten Wand fixiert ist (Bühne: Marie Roth). Dies lädt den Professor (wieder höchst präsent und sprech-mächtig: Sascha Tuxhorn) und die wissbegierige Schülerin (Süheyla Ünlü) zu wagemutigen Kletterpartien ein, während gleichzeitig ein absurder Nachhilfekurs in Arithmetik und Philologie stattfindet - die Schülerszene in Faust I lässt grüßen! So weit, so originell.

Dann aber hat sich Gloger für einen dritten Teil entschieden, in dem auf der fast leeren Bühne - nur zwei Zelte und ein Lagerfeuer sind zu sehen - Tagebucheintragungen und theoretische Texte von Ionesco szenisch verhandelt werden. Hier geht es ein bisschen erratisch-philosophisch um Gott und die Welt, um Krieg und Frieden, um Lüge und Wahrheit. Ein Neandertaler spielt mit Keule und Tablet, Alexander von Humboldt äußert Zeitkritisches: anything goes oder Die große Unübersichtlichkeit? Zum Schluss wird das Publikum auf die Bühne eingeladen, um mit einem Glas Sekt in der Hand die Erleuchtung zu entdecken. Aus dem Schnürboden senkt sich quasi als Deus ex machina eine kahle Sängerin im roten Abendkleid (Frank Damerius), die ein poppiges Nonsens-Lied trällert. Und als alle schon zum Schlussbeifall ansetzen wollen, beginnen plötzlich vier Nashörner in der 20. Reihe ein wirres finales Gespräch.

Intensiver Schlussbeifall für ein mutiges Bühnen-Unternehmen, dem am Ende etwas die Linie fehlt, das aber Spaß auf mehr macht.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/ein-stein-fing-feuer/14.10.2018/1700


Die Perser    ***

von Aischylos (wiedergegeben von Durs Grünbein)

Inszenierung: Ulrich Rasche

mit: Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa, Patrycia Ziolkowska u.v.a.

Premiere am 18.8.2018 (Landestheater Salzburg / Salzburger Festspiele)

besuchte Aufführung am 26.8.2018

 

Xerxes hat Mist gebaut! Von persischem Boden darf nie mehr ein verlorener Krieg ausgehen! So zynisch-zeitgeistig könnte man die zentrale Botschaft von Aischylos' früher Tragödie aus dem Jahre 470 v.Chr. zusammenfassen. Aber natürlich geht es um mehr in diesem Stück, das als Warnung des (athenischen) Siegers, aber aus der Perspektive der (persischen) Verlierer geschrieben ist: es geht um die Hybris und um die Verblendung des persischen Jung-Königs Xerxes, der in seiner Eroberungswut grenzen- und gottlos wird und sich schließlich bei Salamis 480 v. Chr. von den listigen Athenern unter Themistokles in einer Seeschlacht trotz quantitativer Überlegenheit abkochen lässt.

Dass die Kraft des Theater aus dem Dialog kommt, ist hier nicht zu erkennen, denn Aischylos geht es vor allem um Klage, Klage, Klage. Durch längliche Botenberichte erfährt man vom Schlachtenunglück, der Chor des persischen Ältestenrates und die Königsmutter Atossa artikulieren böse Ahnungen, der heimgekehrte Xerxes monologisiert über sein tragisches Schicksal, der tote Vater Darius sendet aus dem Grab Warnungen.

Was also aus solchen eher gleichförmigen Textflächen machen? Regisseur Ulrich Rasche mutiert wieder zum Maschinenbauingenieur, Chorleiter und Sprachentschleuniger. Auf die eher kleine Bühne des Salzburger Landestheater hat er (wie alte Langspielplatten!) zwei große Drehscheiben montiert, eine davon mit massiver Hydraulik um bedrohliche Schräglagen zu erzeugen. Dem gleichmäßigen Drehtempo entspricht auch das Schreit- und Sprachtempo der Akteure, die trotz Bewegung eher Stillstand signalisieren. Auf der vorderen Scheibe agiert das Damentrio Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa und Patrycia Ziolkowska: sie veranstalten eine bewegte Rezitation in Zeitlupe, die dem Text oft nicht vorhandene Tiefe einhauchen soll. Auf der hinteren Scheibe sind die lädierten Krieger festgezurrt, die eine Art Rückmarsch nach Susa verbildlichen. Unterlegt wird die zähe Deklamation durch Live-Musik eines fünfköpfigen Ensembles (Bratsche, Pauke, Bass, Marimba und Elektronik), das manchmal durch anschwellenden Lärmpegel Akzente setzt. Die teilweise ermüdenden vier Stunden bieten also außergewöhnliche Optik, Sprachballett mit Musik, ein bisschen Geschichtsunterricht und antike Tragödien-Ethik - oder um es zeitgeistig und zynisch (s.o.) zu sagen: viel Lärm um wenig Inhalt!

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/perser-2018


Hunger ****

nach Knut Hamsuns Romanen "Hunger" und "Mysterien" in einer Fassung von Frank Castorf

Inszenierung Frank Castorf

mit: Sophie Rois, Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Lars Rudolph u.a.

Premiere am 4.8.2018 (Perner-Insel, Hallein / Salzburger Festspiele)

besuchte Aufführung: am 10.8.2018

 

Frank Castorf, der nach dem Ende seiner Intendanz an der Freien Volksbühne Berlin über mehr Zeit verfügt, hat (wohl zusammen mit seinem Dramaturgen Carl Hegemann) ein Leseprojekt gestartet. Man studierte die beiden ersten Romane des norwegischen Autors Knut Hamsun ("Hunger" von 1890 und Mysterien" von 1892), analysierte die gefährliche Nähe, die Hamsun zum deutschen Nationalsozialismus und zu Adolf Hitler entwickelte und machte daraus einen sechsstündigen (!) Theaterabend, bei dem man freilich manchmal glaubt in einem Arthaus-Kino gelandet zu sein. Denn auf der markanten Drehbühne von Aleksandar Denic, die die vier Seiten eines rustikalen Holzhauses mit einer Art Reetdach und einer überraschenden McDonalds-Front vorzeigt, torkelt fast ständig ein dreiköpfiges Video-Team mit Kamera, Mikrofongalgen und Ausleuchtung, das das Geschehen im Inneren filmt und auf zwei große LED-Wände überträgt.

Die beiden Romane sind über weite Strecken innere Monologe einer Hauptperson - natürlich mit unübersehbarem autobiografischem Charakter - die sich als Außenseiter in einer norwegischen Großstadt bewegt. Bei "Hunger" ist es ein namenloser Fremder, der sein Geld als Schriftsteller verdienen will, jedoch keinen Verleger findet und immer mehr in eine wahnhafte Hunger-Askese abrutscht. Bei "Mysterien" ist es ein gelb gekleideter Künstler, der sich mit einem vom Stadt-Bürgertum gehänselten Menschen anfreundet und ihn von sich abhängig macht. Wie man solche Textwüsten spielbar macht, ist die große Kunst von Castorf und seinem ihm treu ergebenen Ensemble. Der Regisseur und der Bühnenbildner spielen mit wilden Assoziationen (NS-Symbolik!), die Schauspieler überzeugen mit vollem stimmlichen und körperlichen Einsatz, der manchmal in die expressionistische Klage von Edvard Munchs "Schrei" mündet, aber auch zeitweise in akustischen Terror und nervige Trash-Optik abdriftet. Dem Publikum bleibt die Wahl: entweder man lässt sich in diesen fast nicht endenden Bühnensog hineinziehen oder man verlässt spätestens nach der Pause die Spielstätte - was ungefähr ein Drittel tat! Die verbleibenden Aussitzer waren allerdings (zurecht) begeistert und feierten das achtköpfige Ensemble mit stehenden Ovationen. Ob man allerdings an diesem Abend mehr über Knut Hamsun - oder über sich und die Welt - gelernt hat als bei einem Volkshochschulkurs mit Leseproben und Autoren-Infos sei dahingestellt.

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/hunger-2018


Georg Büchner: Leonce und Lena      **

Inszenierung: Markus Nondorf

Theater aus dem KulturKammerGut

Premiere: 2.8.2018

Freilichtbühne im Stadtpark Fürth

 

Aufrührerische Worte schallen in der Dunkelheit durch den Fürther Stadtpark. Irgendjemand schreit, es sei strafbar, sich krank zu arbeiten, wer im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiene, sei verrückt, lieber solle man sich in den Schatten legen und Makkaroni mit Melonen futtern. Doch die Polizei braucht nicht einzugreifen, denn es handelt sich (nur) um Theater: das TKKG bietet Büchners „Leonce und Lena“ auf der Freilichtbühne.

Die Thesen von Leonces Diener Valerio kann man angesichts der Sommerhitze gerne unterschreiben, denn die tropischen Temperaturen treiben einem auf den harten Bänken des Amphitheaters selbst im Sitzen noch den Schweiß ins Hemd. Auch sonst bietet Büchners Lustspiel viel Stoff für aktuelles Weiterdenken, was Regisseur Markus Nondorf eifrig aufgegriffen hat. Er inszeniert das Stück als eine Mischung aus Rummelplatz-Reigen (auf dem Bühnengerüst steht „Es werde Zirkus“), commedia dell‘arte und Polit-Satire. Dabei agieren die italienischen Schriftsteller Vittorio Alfieri (Tanja Busch) und Gasparo Gozzi (Joachim Zons) als kommentierende Pausen-Auguste, die immer wieder den alten Dean-Martin-Song „That’s Amore“ anstimmen. Erik Streit ist als Leonce ein dynamischer, aber auch grübelnder urban cowboy, ein durchtrainierter Vertreter einer Null-Bock-auf-konventionelle-Politik-Generation, der in seinem berühmten utopischen Schlusswort alle Uhren zerschlagen und alle Kalender verbieten will. Esther Sambale interpretiert die Prinzessin Lena als zartgliedrige „Lady In Black“, die ihrer Herkunft aus dem Königreich Pipi auf der Bühne ganz wörtlich nimmt. Und der alte König Peter (Ralf Ahlborn) - aus dem Reiche Popo - verkündet seine rätselhaften Ansagen an das Volk von einem Holzthron mit eingebauter Kloschüssel! Lautstark schleudert der pfiffige Diener und spätromantische Taugenichts Valerio (David O. Riedel) revolutionär-anarchistische Botschaften gegen die frühkapitalistische Arbeitsethik ins Publikum; zusammen mit der Lena-Gouvernante (Sandra Bauer) wird er zum sexuell aktiven Buffo-Pärchen.

Die Background-Musik stammt durchaus passend von dem 70er-Jahre-Barden Cat Stevens („Where Do The Children Play“ oder „If You Want To Sing Out“), die Zuschauer dürfen auch mal beim Einzug des neuen Prinzenpaares (bei dem Leonce und Lena die Masken von Prinz Harry und Ehefrau Meghan tragen) mit Deutschland-Fähnchen wedeln und der alte König zieht sich glücklich in den Ruhestand zurück, um endlich ungestört nachdenken zu können. Würden wir das nicht auch dem Herrn Trump wünschen?

Das Ensemble des Fürther Theaters aus dem KulturKammerGut agiert mit viel Enthusiasmus, einige Straffungen im Timing hätten dem Abend aber noch gut getan. Doch wie sagt schon Leonce: „Wir zählen Stunden und Monde nur nach der Blumenuhr“.

 

http://tkkg-buehne-fuerth.de/


Nebel im August

(Der Fall Ernst Lossa vor Gericht)   ****

Inszenierung: Kathrin Mädler

Landestheater Schwaben

Premiere: 16.3.2018

besuchte Aufführung: Theater Fürth

am 17.6.2018 im Rahmen der Bayerischen Theatertage

 

2009 hat Kathrin Mädler, damals Dramaturgin am Staatstheater Nürnberg, mit Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ eine bemerkenswerte Inszenierung in der Bauruine der Kongresshalle abgeliefert. Nun kehrt sie als Intendantin des Landestheaters Schwaben wieder in die Region zurück und hat erneut ein Dokumentarstück für die Bayerischen Theatertage im Gepäck.

„Nebel im August (Der Fall Ernst Lossa vor Gericht)“ erlebte im März seine überregional gelobte Uraufführung in Memmingen. Die Geschichte beruht auf der gleichnamigen Romanbiografie von Robert Domes, der das Schicksal des jungen Ernst Lossa, der 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren die Todesspritze verabreicht bekam, recherchierte. Fünf Jahre später stehen der ehemalige Anstaltsleiter Dr. Falthauser, die Krankenschwester Pauline Kneißler und zwei Pfleger in Augsburg wegen Mordes in ca. 200 Fällen vor Gericht.

John von Düffel entwickelte vor allem aus den Prozessakten eine Bühnenfassung, die im ersten Teil das Verhalten der Angeklagten in diesem Euthanasie-Prozess thematisiert. Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf das Einzelbeispiel Ernst Lossa, der von Gutachtern als „asozialer Psychopath und notorischer Kleptomane“ eingestuft und schließlich mit einer Giftspritze aus dem Weg geräumt wurde.

Kathrin Mädler versammelt in einem aseptisch weiß gehaltenen Bühnenraum, der wie ein Versuchslabor oder ein Wartezimmer wirkt, sechs Schauspieler in oliv-grauen Overalls und mit weiß gekalkten Gesichtern (Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner), die in wechselnden Rollen die dokumentarischen Texte sprechen. So entsteht eine spannungsreiche Choreografie der Sprache, des Lichts und der Bewegung. Kontraste und Brechungen werden zum einen durch einen kleinen Jungen erzeugt, der die weißen Wände mit farbigen Wachskreiden bemalt, zum anderen intoniert das Ensemble zweimal das geistliche Lied von Paul Gerhardt: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben“.

Im Mittelpunkt aber steht die rückblickende Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die auch 70 Jahre später nicht als abgeschlossen (oder als „Vogelschiss“) erklärt werden darf. Die Aufführung beweist, dass Dokumentartheater mehr sein kann als eine trockene Geschichtsstunde, dass die Adjektive „bedrückend“ und „beeindruckend“ kein Gegensatz sein müssen.

Umso bedauerlicher, dass sich zu diesem Gastspiel gerade mal 40 Zuschauer im Fürther Theater versammelten. Im davor gelegenen Gewächshaus wurden bei Bier und Live Musik mehr Gäste gesichtet!

 

https://www.landestheater-schwaben.de/spielplan/details/nebel-im-august/52.htm

Philipp Lahm        ****

Von Michel Decar

Inszenierung: Robert Gerloff

Mit: Gunther Eckes

Premiere am 16.12.2017 (Residenztheater München, Marstall)

Besuchte Aufführung: am 10.6.2018 im Fürther Stadttheater (im Rahmen der Bayerischen Theatertage)

 

Fast jeder kennt Philipp Lahm als herausragenden Fußballer, als erfolgreichen FC-Bayern-München-Profi und als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, die 2014 Weltmeister wurde. Der aufstrebende Theaterautor Michel Decar interessiert sich aber für Philipp Lahm als Symbol einer generationentypischen Lebenshaltung, als Verkörperung des Zeitgeistes der Nuller- und Zehner-Jahre des 21. Jahrhunderts.

So entstand das Monodrama „Philipp Lahm“, das Mitte Dezember am Münchner Residenztheater (Marstall) Uraufführung hatte (Regie: Robert Gerloff) und nun im Rahmen der Bayerischen Theatertage in Fürth vorgestellt wurde. In 72 Mikro-Szenen, die zusammen etwa die Länge eines Fußballspiels ausmachen, zeigt Schauspieler Gunther Eckes einen Menschen, dessen Alltag von Durchschnittlichkeit, Unanstößigkeit, Nettig­keit und permanenter Zufriedenheit geprägt ist. Da gibt es folglich gar nichts, was das traditionelle Drama ausmacht: keine Fallhöhe, keine Konflikte, keine Sehnsucht nach dem Dunklen, dem Abgründigen, keine Tragödien, keine reinigenden Katastrophen - oder mit dem ironischen Ton des Verfassers gesprochen: „Philipp Lahm hat den komplet­ten Shakespeare entwertet wie einen Einzelfahrausweis“.

Wir erleben also auf der dreiteiligen Bühne (Maximilian Lindner) die Banalität des Alltags im Hause Lahm: mit Fingernägel­schneiden, mit Tagesschau-Gucken und mit der Bestellung eines Liefer-Menüs. Dazwischen sondert Eckes/Lahm Merksätze fürs postmoderne Poesiealbum ab wie „Ich denke, die BRD ist als Staat ganz okay“ oder „Ich versuch positiv zu bleiben und das Beste aus meinem Leben zu machen“. Zwischen­durch knabbert der Protagonist ein bisschen an der Nussschokolade und trällert zur Melodie des Beatles-Klassikers „With A Little Help From My Friend“ Erbauliches zum Sinn der EU. Natürlich merkt jeder, dass dieser positive Gleichmut eines deutschen Lieblings-Schwiegersohns (wahrscheinlich Platz 2 hinter Günther Jauch?) ständig hintergründig gebrochen wird und letzten Endes beim Zuschauer die interaktive Frage ankommt: „Sind wir nicht alle ein bisschen Philipp Lahm?“

Eines ist auf jeden Fall sicher: der echte Philipp Lahm würde dieses Stück nicht schon nach zwanzig Minuten verlassen wie etwa zwanzig Fürther Theater-Besucher, die wohl eher eine Sportler-Jubel-Präsentation erwartet hatten. Und der echte Philipp Lahm würde hinterher auf die Frage des Theaterkritikers nach seinem Urteil antworten: „Alles okidoki!“

 

https://www.residenztheater.de/inszenierung/philipp-lahm


Raumstation Sehnsucht

Songs Of Love And Change ****

Von Bettina Ostermeier und Friederike Engel

Inszenierung: Patricia Benecke

Premiere am 2.6.2018

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Im Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg ist derzeit viel time to say goodbye. Zum einen verlässt Direktor Klaus Kusenberg nach 18jähriger Dienstzeit die gewohnte Umgebung und setzt damit einen gewaltigen Maßstab für die Halbwertszeit von künstlerischen Leitern an deutschen Theatern, die anderswo immer mehr auf das Maß von Profi-Fußballtrainern herabsinkt. Zum anderen müssen sich auch ca. 75 Prozent des künstlerischen Personals verabschieden, weil Jan Philipp Gloger die Idee vom Neuanfang und von der kreativen Unruhe sehr wörtlich nimmt.

Während Kusenberg Ende Juli mit zwei (vermutlich wehmütigen) Abenden verabschiedet wird, sagt das Ensemble bei der letzten Premiere im großen Haus gar nicht leise „Servus“. Bettina Ostermeier (Musik) und Friederike Engel (Story) haben sich dazu einen poppigen Liederabend in der Tradition von Franz Wittenbrink („Sekretärinnen“) ausgedacht, der vor allem eines soll: Spaß machen. Die selbstverständlich fast sinnfreie Geschichte erzählt von einer Startrampe am Albrecht-Dürer-Airport (mit Duty Free Shop und Cocktailbar), an der eine Reihe von Akteuren auf den Abschuss ins Weltall warten. Daraus entwickeln sich einige zwischenmenschliche Dramen, aber vor allem 23 Songs aus der Musikgeschichte der letzten 50 Jahre.

Elke Wollmann kommt als Bio-Bienenretterin und versucht sich an Michael Jacksons „Earth Song“, Bettina Langehein stöckelt als französisches It-Girl durch die Szene und freut sich auf „Voyage, Voyage“, Lilly Gropper präsentiert sich als junge Madonna und als „Digital Girl“, mit Tablet und Kopfhörern bewaffnet. Frederik Bott enthüllt bislang unbekannte gesangliche Qualitäten als missverstandener Sohn, der rotzfrech Lenny Kravitz‘ „Fly Away“ schmettert, Marco Steger sucht nach seiner Weltraum-Prinzessin und läutet stimmstark den „Final Countdown“ ein. Die große Show liefert schließlich Josephine Köhler ab, die sich variantenreich „Somewhere Over The Rainbow“ wegträumt. Als verstörter Problem-Hase stolpert schließlich noch Stefan Willi Wang über die Bühne und singt fast autobiografisch in dem Radiohead-Titel „Creep“: „I’m a weirdo / What the hell am I doing here? / I don’t belong here“.

Zu Haus bleiben müssen (?) der Reiseleiter Frank Damerius, der am Ende mit Joni Mitchells „Both Sides Now“ ganz melancholisch wird, und der notorische blinde Passagier Michael Hochstrasser, der eine täuschend echte Leonard-Cohen-Kopie („Traveling light“) abliefert.

Auf einem hinteren Bühnenpodium agiert die sehr gut eingespielte achtköpfige Band um Bettina Ostermeier, hellwach - ganz entgegen ihrer Schlafanzug-Kostümierung. Sie lassen sich auch nicht vom intensiven Auf und Nieder der Bühnen-Mechanik, die hier noch einmal radikal ausgeschöpft wird, irritieren.

Der kurzweilige Abend bringt launige Assoziationen zum Thema Raumfahrt mit E.T.-Telefonat, Star-Wars-Floskeln, Star-Trek-Monturen und mit einer Schweine-im-Weltall-Tanzformation. Direkt vor dem Publikum ist die Ikea-Kinderparadies-Zone mit einem Pool aus blauen Kunststoff-Bällen, in dem immer wieder einzelne (und mehrere) Personen baden gehen (Bühne: Franziska Isensee). Am Ende hebt die Rakete nach Nirgendwo ab und entpuppt sich als lokales Design-Objekt: es sind jetzt mindestens sieben arme Würstchen in einem Weggla! Da fehlt nur noch der klassische Hesse-Sinnspruch, dass jedem Abschied ein neuer Anfang innewohne.

Das Publikum ist am ausverkauften Premieren-Abend sichtlich froh, einmal nichts interpretieren und keine gedanklichen Tiefbohrungen anstellen zu müssen; das furiose Ensemble wird mit stehenden Ovationen verabschiedet.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,raumstation_sehnsucht_ua_,109723


Wenn Deutsche über Grenzen gehen

oder Das Ziel ist im Weg       ***

Kabarett-Theater Distel

Stadttheater Fürth, 13.5.2018

 

Angesichts des inflationären Angebots an Comedy und Kabarett ist es für die traditionellen Ensembles schwierig, sich noch am Markt zu behaupten. Umso erstaunlicher, dass das seit 1953 aktive Berliner Theater-Kabarett „Distel“ sein 2017er-Programm vor einem vollen Fürther Stadttheater präsentieren konnte.

In den kurzweiligen zwei Stunden mit dem Titel „Wenn Deutsche über Grenzen gehen - oder: Das Ziel ist im Weg“ wird anhand dreier (repräsentativer?) Charaktere ein Deutschland beschrieben, das statt Frischblumen lieber Neurosen ins Fenster stellt, das von German Angst und Alarmismus geprägt ist und das von einer ewigen GroKo ruhig gestellt wird.

Die drei Akteure sind Lars, ein Pfarrer und brandenburgischer Dorfbürgermeister (Timo Doleys), Marion, eine Lehrerin (Caroline Lux, die in Diktion und Körpersprache manchmal an Christine Prayon, die Birte Schneider der „heute-show“, erinnert), und Dirk, ein Spulenwickler (Stefan Martin Müller). Ihre beruflichen und politischen Erfahrungen haben sie - ganz in der Tradition von Hape Kerkeling - zu einem Ausstieg aus dem Hamsterrad motiviert: sie befinden sich auf dem Jakobsweg in Spanien und treffen zufällig wegen schlechten Wetters in einer Schutzhütte zusammen. Diese Hütte bietet für 24 Stunden Trockenheit, ein karges Stockbett und die Möglichkeit viel miteinander (und gegeneinander) zu reden.

Aus dieser besonderen Situation und Rahmenhandlung haben die Autoren Michael Frowin und Philipp Schaller eine gut geölte Szenenfolge gestrickt, mit schnellen Dialogen und wenigen Solo-Partien - meist endet das Ganze in einem gemeinsamen Song (musikalisch begleitet von Falk Breitkreuz und Til Ritter).

Lars erzählt von den syrischen Flüchtlingen im Dorf-Schulhaus: „Damit wir Fördergelder bekommen, haben wir ein paar Jugendliche zu Nazis umgeschult“; Marion erzählt von nächtlichen Anrufen der Helikopter-Eltern, die ihr erklärten wollen, dass der Sohn das Zeug zum Star-Architekten habe (sie meint: vielleicht doch nur zum Star-Maurer); Dirk will gar nicht wissen, wofür seine gewickelten Elektrospulen gebraucht werden, nachdem seine Firma zum zehnten Mal den Investor gewechselt hat.

Als Songs bleiben in Erinnerung der Tango von den „Sozialen Abwärtsvergleichen“ und die satirische Capri-Fischer-Parodie über die Plastik-Vermüllung der Weltmeere („Eine Insel so schön / ganz aus Propylen“). So entsteht eine meist hintersinnige Revue über aktuelle politische Themen und deutsche Befindlichkeiten der Gegenwart, die es gar nicht nötig hätte, das Programm noch durch abgestandene Angela-Merkel-Witzchen anzureichern. Aber leider gibt es da die lautesten Lacher …

 

http://www.distel-berlin.de/de/spielplan/repertoire/wenn-deutsche-ueber-grenzen-gehen.html


Yerma     ****

von Federico Garcia Lorca

Inszenierung: Andreas Kriegenburg

Premiere am 27.4.2018

Staatsschauspiel Dresden

mit: Deleila Piasko u.v.a.

 

Was 1934 in Spanien noch eine Provokation war, erscheint heute nicht mehr als gesellschaftlicher Aufreger: junge Frau (Yerma) will sich mit der Lustlosigkeit ihres Ehemanns (Juan) und mit der damit verbundenen Kinderlosigkeit nicht abfinden; schließlich tötet sie den Fortpflanzungsverweigerer. Kann man diese Geschichte von Garcia Lorca nach Emanzipation und Frauenbewegung, nach Pille, Sex ohne Reue und dem Familienmuster DINK (double income, no kids) noch auf die Bühne bringen? Andreas Kriegenburg beantwortete diese Frage offensichtlich mit „Ja“ und präsentiert in Dresden Garcia Lorcas „Yerma“ als ein choreographisches und chorisches Schaustück, das vornehmlich mit eindrucksvollen Bildern, balletthaften Gruppierungen und gebetsmühlenhaftem Singsang arbeitet. Im Mittelpunkt steht die hoch-emotionale Yerma (Deleila Piasko), umkreist von Wäscherinnen/Verwandten/Freundinnen, die stolz ihren Nachwuchs präsentieren: „Wo ist dein Kind?“. Dass sie sich unhinterfragt in die traditionelle Frauenrolle einfügen und im häuslichen Gefängnis funktionieren, erkennen sie nicht - doch auch Yerma ist ja nicht bewusst kinderlos! Auch sie fügt sich den Vorschriften ihres Mannes Juan (Simon Werdelis), verweigert sich in ehelicher Treue einer Affäre mit dem Schäfer Victor (Mathis Reinhardt) und hofft bis zum Ende des Stückes auf die Samenspende des Ehegatten.

Die weiß-beige Sperrholzbühne von Harald Thor lässt viel Raum für Farb-Symbolik und Bewegungstheater. In den großen Raum fährt manchmal ein etwas kleinerer Kasten herein, der Yermas Haus und auf der Rückseite die Arbeitskabinen der anderen Frauen zeigt. Weiß-blaue Wäsche wird eifrig gewaschen, schwarze Kleider tragen die Bewacherinnen Yermas und ein Ausbruchsversuch der jungen Frauen mit rotem Lippenstift entpuppt sich als freie Assoziation zu dem Original, bei der die Schauspielerinnen kurz ihre Rollen verlassen. Am Ende wird Yerma zur tragischen Amazone und erwürgt ihren lendenlahmen Ehemann in einem großen Berg aus Herrenhemden. Der Theaterabend ist durchaus unterhaltsam und verleitet zu dem Fazit: man ist beeindruckt, aber nicht begeistert.

 

http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/yerma/


Willkommen      **

von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

Inszenierung: Katrin Lindner

Premiere: 12.4.2018

besuchte Vorstellung: 19.4.2018

Theater Erlangen (Markgrafentheater)

 

Lutz Hübner gehört ohne Zweifel zu den cleversten Trend-Scouts des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. Zuletzt hat er die hyperaktiven Helikopter-Eltern („Frau Müller muss weg“), die Abgründe der Unternehmens-Kultur („Die Firma dankt“) und nun auch die deutschen Befindlichkeiten angesichts der Flüchtlingswelle („Willkommen“) in sein Themenspektrum aufgenommen. Kein Wunder, dass er in der Hitparade der meistgespielten Dramatiker auf deutschen Bühnen Platz 3 (gleich hinter Shakespeare und Goethe) einnimmt. „Willkommen“ wurde 2017 in Düsseldorf uraufgeführt (Regie: Sönke Wortmann) und nun am Theater Erlangen ins Programm aufgenommen.

Das Stück erzählt von einer fünfköpfigen Junge-Erwachsenen-WG, bei der anlässlich des allmonatlichen Jour-fix-Abendessens Anglist Benny ankündigt, dass er für ein Jahr als Gastdozent nach New York wechselt und sein 30qm-Zimmer an eine syrische Flüchtlingsfamilie zwischenvermieten will - „aber nur, wenn das alle so akzeptieren“! Die nun folgende Diskussion steht ein bisschen stellvertretend für die gesamtgesellschaftliche Debatte um die (Un)Willkommenskultur seit 2015, sie führt von Betroffenheits- und Empathie-Pathos immer mehr in einen Zustand des multipolaren Gemetzels, endet aber mit einer leicht merkwürdigen Versöhnung - oder wie die schwangere Sozialpädagogikstudentin Anna sagt: „Das Thema ist vom Tisch“.

Die Erlanger Inszenierung von Katrin Lindner verzichtet auf ein realistisches Bühnenbild und deutet nur mit fünf grünen Stühlen, einer (funktionslosen) Tür und einem leeren Küchenbüffet den Ort der Handlung an. Leider schlägt die Dialogregie kaum Funken, die Akteure scheinen öfter blutleer zu monologisieren, der spontane Wortwitz bleibt verdeckt. Stattdessen müssen die Schauspieler allerlei choreographischen Schabernack absolvieren, der genauso wenig Eindruck hinterlässt wie allzu symbolischen Seifenblasen, die fast nonstop vom Bühnenobergerüst herabgleiten. Das sechsköpfige Ensemble (Franziska Rieck, Adelheid Bräu, Alexandra Ostapenko, Martin Maecker, Amos Detscher und Charles P. Campbell) müht sich redlich die Charakterstudien von Gutmenschen und Bedenkenträgern, von Floskel-Produzenten und Klartext-Sprechern ins Rampenlicht zu setzen, an den müden Reaktionen im Publikum merkt man aber, dass der Versuch nur wenig gelingt. Auch die Verlagerung der WG-Küche von Köln nach Erlangen bringt keine zusätzliche Erhellung. Bassd scho? Eher nicht!

 

http://www.theater-erlangen.de/de/spielzeit-17-18/stuecke-projekte/willkommen


Wie es euch gefällt      ****

Von William Shakespeare

Inszenierung: Frank Behnke

Premiere am 14.4.2018

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

In Zeiten, die uns momentan gar nicht so gefallen, muss es eigentlich erlaubt sein, ein Theaterstück anzubieten (und zu besuchen), das mit einem grandiosen Happy End aufwarten kann: vier Paare feiern nach diversen Irrungen und Wirrungen Hochzeit, zwei engstirnige Herrscher-Machos geben sich geläutert und entsagen der Gewalt - that’s the way I like it?

Doch so einfach und vordergründig entlässt weder der Autor Shakespeare noch der Regisseur Frank Behnke (einstmals Chefdramaturg in Nürnberg, nun Schauspieldirektor in Münster) sein Publikum, und die vorletzte Premiere im Großen Haus während der Ägide Kusenberg erzeugt trotz allem Jux und aller Tollerei eher Nachdenklichkeit und gebremstes Lachen.

Die Inszenierung beginnt mit dem Bild einer Machtusurpation durch den neuen Herzog (Pius Maria Cüppers), der hinter Absperrgittern und aus Nebelschwaden per Mikrofon zu seinen Untertanen spricht. Mit Fantasie-Uniform und Blondie-Perücke wirkt er wie eine Kreuzung aus Donald Trump und Kim Yong-un; sein Volk lullt er durch Brot und Spiele (hier: Ringkämpfe) ein, Kritiker schickt er kurzerhand ins Exil. Bald wird es einsam um ihn, denn nach dem alten Herzog (Jochen Kuhl) verlassen auch seine Tochter Celia (Lilly Gropper), ihre Cousine Rosalinde (Josephine Köhler), der Narr Touchstone (Frank Damerius) und der junge Orlando (Julian Keck) den düsteren Hof.

Das zweite Bild (Bühne: Peter Scior) zeigt auf der Drehbühne die Gegenwelt zu Machiavellismus und Untertanen-Kriecherei. Zwar sind die Absperrgitter geblieben, doch nun bilden sie ein geradezu poetisches Klettergerüst (das übrigens ziemlich an die Schöner-Brunnen-Installation von Olaf Metzel aus dem Jahre 2006 erinnert) als Symbol für den Ardenner Wald. In diesem Eisengeflecht tummeln sich die Exilanten als bunte Hippie-Kommune, sie drapieren ein großes Transparent „Make Love Great Again“ (!) und können nun zur Musik von Chris Isaak („What a wicked game to play“) ihren Liebes-, Verwechslungs- und Weltschmerz-Spielchen frönen; es fehlt nur noch, dass der Bühnennebel nach Haschisch riecht! Die Regie übernimmt die als Mann verkleidete Rosalinde - eine herausragende Leistung von Josephine Köhler, deren Abschied aus Nürnberg nur schwer zu verschmerzen sein wird. Dazu bellt der Narr Jacques (Heimo Essl) die bekannten Verse von der Doppelbödigkeit unserer Existenz: „Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und Männer, Frauen, alle sind bloß Spieler; / Sie gehen ab und treten wieder auf / Und spielen eine Rolle nach der andern“. Nicola Lembach meckert sich als Ziegenhirtin Audrey durchs Gelände und findet in Touchstone den Deckel zum Topf. Als schließlich auch der sprachlahme Orlando als Macbeth-Vorbote zu seiner Rosalinde findet und die Amazone Phebe (Svetlana Belesova) ihrem liebestollen Naivling Silvus (Janco Lamprecht) das Ja-Wort geben muss, steht einem Grinse-Gruppenfoto nichts mehr im Weg.

Das Premieren-Publikum spendet der originell modernisierten, bildstark präsentierten und sinnvoll gekürzten Shakespeare-Fassung reichlich Beifall und darf beim Heimweg über des Narren Feststellung nachdenken: „Schade, dass Idioten heutzutage nicht mehr vernünftig sagen dürfen, was vernünftige Leute Idiotisches tun“.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,wie_es_euch_gefaellt,109720


Beckmann (Julian Keck), hier ohne Gasmaskenbrille
Beckmann (Julian Keck), hier ohne Gasmaskenbrille

Draußen vor der Tür      ****

von Wolfgang Borchert

Inszenierung: Sascha Hawemann

Premiere am 24.2.2018

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Es war ein Stück, das angeblich kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Doch dann stellte sich heraus, dass Wolfgang Borchert damit im Jahr 1947 eine ganze Generation ansprechen konnte: die Generation ohne Abschied, ohne Bindung, ohne Bleiben, ohne Ankunft, ohne Heimkehr - und ohne Gott. Die Hauptfigur Beckmann hat sich in der Tradition von Büchners „Woyzeck“ und Tollers „Hinkemann“ mittlerweile einen festen Platz in der Literaturgeschichte nach 1945 erobert; er ist der Kriegsheimkehrer, der vergeblich nach einem Sinn sucht, den das schlechte Gewissen plagt, der das Selbstmitleid einer großen Gruppe spiegelt und der seine Anklage gegen die sich wieder behaglich einrichtende bürgerliche Gesellschaft mit einem expressionistischen Schrei artikuliert.

Trotzdem bleibt die Frage, ob das Stück „Draußen vor der Tür“ heute noch ein Theater spielen und ein Publikum sehen will. Regisseur Sascha Hawemann gibt darauf in Nürnberg eine unüberhörbare Antwort. Es nimmt dem Heimkehrer Beckmann seinen ausschließlichen 1947er-Zeitbezug und verweist auf die weltweit traumatisierten Soldaten nach 1945 - auf die Vietnam-Veteranen der USA, auf die völkerrechtswidrig in den Irak Einmarschierten und auf die Bundeswehr-Angehörigen, die am Kandahar angeblich unsere Freiheit verteidigen sollten. Dazu übersetzt er den Hörspiel-Schrei Borcherts, der in einem Manifest einmal schrieb, dass der „erregte, hektische Jazz“ nun seine Musik sei („das heiße verrückttolle Lied, durch das das Schlagzeug hinhetzt, katzig, kratzend“), in den lauten Punk-Hard-Rock der 90er Jahre, den der Bühnenmusiker Xell an der Gitarre, der Schauspieler Frederik Bott (auch in der Rolle als junger Beckmann) am Schlagzeug und zuletzt auch der Schauspieler Julian Keck (vor allem in der Rolle des Beckmann) am Bass über die Bühne donnern lassen. Wenn dazu die übrigen Schauspieler auf der mit Marshall-Lautsprechern bestückten Bühne (Wolf Gutjahr) schlammverschmiert die Bierflaschen öffnen und tanzen, fühlt man sich - abgesichert durch am Eingang verteilte Ohrstöpsel! - fast in das Wacken-Festival versetzt mit der aktuellen Botschaft: auch so kann man der Realität entfliehen.

Insgesamt überzeugt die sehr direkte und assoziationsreiche Regiesprache Hawemanns mit seiner Blut, Schweiß & Dreck-Ästhetik, weil er dem Original-Text trotz mancher Aktualisierungen und Ergänzungen vertraut, seinen Schauspielern großen körperlichen und stimmlichen Einsatz abverlangt, dies aber stets in den Gedanken des Stückes verankert. So darf Stefan Lorch mehrere Personen des Stationendramas verkörpern: er ist die Elbe in einer glitzernden Conchita-Wurst-Variante, er ist der abgewrackte Gott, der als Monty-Python-Brian mit „Je suis Jesus“-T-Shirt und Golgatha-Kreuz über die Bühne wackelt, er ist der knarzige Oberst, der mehr an Äpfeln als an der Verantwortung zu kauen hat, und er ist der zukunftsorientierte Herr Kramer, der den Blick schon fest auf die Zeit des kommenden Wirtschaftswunders gerichtet hat.

Eine glanzvolle Solonummer bietet die Rolle des Theaterdirektors für Nicola Lembach, wo sie in Gustav-Gründgens-Montur als Mephisto das zynische Böse zum Ausdruck bringt. Svetlana Belesova überzeugt schließlich als radelndes junges Mädchen, nicht zuletzt mit einem berührenden Zusatztext über die Verwüstungen der deutschen Soldaten in Russland. Dass die Hauptfigur Beckmann sogar auf drei Schauspieler verteilt ist (mit Stefan Willi Wang als „Der Andere Beckmann“) mag der Arbeitsökonomie auf der Bühne geschuldet sein. Gegen Ende eröffnen die eingespielten Video-Sequenzen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände noch einen passenden lokalen Bezug. Danach lang anhaltender Beifall für die Borchert/Hawemann-Parole des gut zweistündigen pausenlosen Abends: „Wir wollen grob und proletarisch sein … und lärmende Angst haben!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,draussen_vor_der_tuer,109718


Die Wiedervereinigung der beiden Koreas    ****

von Joël Pommerat

Inszenierung: Klaus Kusenberg

Premiere am 16.12.2017

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Im Jahre 1960 stürmte Connie Francis mit dem Schlager „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ die Hitparaden - den deutschen Text schrieb übrigens ein gewisser Ralph Maria Siegel. Dasselbe Grundthema muss wohl der französische Autor und Regisseur Joel Pommerat verfolgt haben, als er 2013 mit seiner Schauspieler-Compagnie das Stück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ erarbeitet und in Paris uraufgeführt hat. Herausgekommen sind 19 Kurz-Szenen mit wechselnden oft anonymisierten Personen („Ein Mann. Eine Frau“), die jenen zwischenmenschlichen Aggregatszustand, den man landläufig Liebe nennt, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die staatliche Wiedervereinigung des Titels (mit der wir ja als Deutsche erfreuliche Erfahrungen haben), steht dabei für den kurzen Glücksmoment des Anfangs, Pommerat aber, als Skeptiker der dauerhaften Zweierbeziehung, zeigt eher die tragik-komischen Krisen des Alltags, die Verwerfungen, die Problemwüsten der Moderne: Liebe im Zeitalter der Individualisierung, der Ökonomisierung. Er beabsichtigt also eine Dechiffrierung jener Romantik, die jetzt nur noch dem Schlager als „Surrogat für verschüttete Gefühle“ (Adorno) vorbehalten ist: es grölt der abgestumpfte, zur Reflexion unfähige Bierzeltbesucher heute gerne „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Lie…hiebe nicht!“

Schon die erste Szene des Abends („Scheidung“) setzt den Grundton, als eine Frau im Monolog bekennt: „Es gibt keine Liebe zwischen uns. Es hat sie nie gegeben!“ Gegen Ende verlässt eine Frau unvermittelt das Bett des Mannes mit den vieldeutigen Worten „Liebe reicht nicht“. Dazwischen stehen Szenen über das Verhältnis des Chefs zu seiner Angestellten, eines Geistlichen zu einer Prostituierten, über ein kinderloses Ehepaar, das sich einfach einbildet, zwei Kinder zu haben, über eine Hochzeit, bei der sich herausstellt, dass der Bräutigam mit allen fünf Schwestern ein Verhältnis hatte, über einen Vater, der seinen Sohn aus Liebe zur Nation in den Krieg schickt, und über die Liebe eines Lehrers zu seinen Schülern, was von den Helikopter-Eltern als Grenzverletzung empfunden wird.

Meist durchzieht die Dialoge eine feine Ironie, wie man sie aus den Stücken von Yasmin Reza oder auch aus dem Episodenfilm „Tatsächlich … Liebe“ von Richard Curtis kennt. Pommerat aber mutet dem Zuschauer auch harten Realismus zu, wenn er das Gespräch eines Mannes mit seiner dementen Frau oder die ärztliche Beratung für die Abtreibung bei einer schwangeren geistig behinderten Frau abbildet. Da bleibt einem das Lachen schon im Halse stecken.

Klaus Kusenberg hat das Stück als Abschieds-Inszenierung nach 18 Jahren als Direktor am Nürnberger Schauspielhaus ausgewählt und gänzlich uneitel das zehnköpfige Ensemble (Biendl, Essl, Hochstrasser, Köhler, Langehein, Lamprecht, Lembach, Lorch, Schebesch, Steeger) in den Fokus gerückt. Auf der Bühne (Ayse Özel), die sich ca. 19mal dreht (man denkt an Schnitzlers „Reigen“), steht nur ein großer LED-Kubus (bekannt aus „Odyssee im Weltraum“) und ein mit weißen Stoffbahnen verhängtes Klettergerüst (vielleicht die Mauer zwischen Nord- und Südkorea?). In diesem schlichten, unspektakulären Ambiente entfalten die Schauspieler ihre dialogische Feinheit, ihre individuelle Präsenz.

Weil man weiß, dass nach der Saison wegen des Direktoren-Wechsels acht dieser Akteure (und darüber hinaus noch ein paar mehr!) Nürnberg verlassen müssen, fühlt man sich beim heftigen und fast schon demonstrativen Schlussapplaus wie der Zirkusbesucher in Kafkas Parabel „Auf der Galerie“: er legt das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,die_wiedervereinigung_der_beiden_koreas,109715


Tiefer Schweb    ****

Von Christoph Marthaler

Inszenierung: Christoph Marthaler

Premiere am 24.6.2017

Besuchte Aufführung: 12.11.2017

Kammerspiele München

 

Nachdem Christoph Marthaler die Freie Volksbühne im Zorn verlassen hat, präsentiert er sein neues Theaterprojekt an den Kammerspielen München. Bei der letzten Berliner Produktion „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war ein zunächst leerer Raum des Naturkundemuseums Basel die Spielfläche, nun entsendet er acht Darsteller in die Tiefen des Bodensees, genauer in die „geheime Klausurdruckkammer 55b“, wo sie im Auftrag der Verwaltungsbehörde einen Krisen-Ausschuss bilden sollen. An der Oberfläche des Dreiländersees haben sich nämlich auf mehreren Fahrgastschiffen aufgrund menschlicher Mobilität „Temporärheimaten“ gebildet - der aktuellen politischen Problematik (Flüchtlingskrise) will und kann also auch Marthaler nicht ausweichen.

Doch trotz energischer Ansagen des Ausschussvorsitzenden zerbröselt die Arbeit des Ausschusses nach kurzer Zeit in ein absurdes Theater, voll von schrägen Texten, merkwürdigem Singsang und repetitiven Bewegungsabläufen. Es wird der Name des Bodensees in alle Weltsprachen übersetzt, es werden die Inhaltsstoffe von Weißwürsten rezitiert, die Tugenden eines Ausschusses von A bis Z herausgebrüllt und Urinale über den Kopf gestülpt; das Marthalersche Dada-Kabarett feiert also fröhliche Urstände. Dabei sind die pausenlosen zwei Stunden in jedem Fall unterhaltsam, da jeder Zuschauer sich seine eigenen Assoziationen durch den Kopf gehen lassen und sich an Kafka-Aphorismen (Ungeduld und Lässigkeit) sowie an Heidegger-Phrasen (über das Nicht-Wollen), die beim Steh-Pinkeln ausgetauscht werden, erfreuen kann. Der Höhepunkt kommt, wenn drei Hammond-Heimorgeln hereingeschoben werden und Ueli Jäggi das Stück „A Whiter Shade Of Pale“ von Procol Harum anstimmt - übrigens ein Song mit drogen-affinem Text-Material! Dann folgt noch eine Personen-Polonaise durch den Kaminofen (Bühne: Duri Bischoff), schon stehen alle in putzigen Trachten auf der Eiche-Rustikal-Bühne und die fabelhafte Annette Paulmann schmettert das Lied von der „Fischerin vom Bodensee“, zu dem Hassan Akkouch einen schmissigen Breakdance-Schuhplattler aufs Parkett legt. Am Ende entblättert sich der ganze Ausschuss bis auf die Unterwäsche und einer beginnt wie wild die Druckkammer mit Dachlatten und Stacheldraht zu verbarrikadieren - ein bildlicher Verweis auf die Festung Europa, die dem Untergang geweiht ist?

Wer sich also an der Form des Liederabends (im Sinne von Franz Wittenbrink), aufgepeppt mit poetisch-surrealen Textbausteinen und durchzogen von politisch-philosophischen Denkanstößen, erfreuen kann, ist mit Marthalers Münchner Inszenierung bestens bedient.

 

https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/tiefer-schweb


Kasimir und Karoline     ****

von Ödön von Horvath

Inszenierung: Georg Schmiedleitner

Premiere: 6.10.2017

Mit: Josephine Köhler, Stefan Willi Wang u. v. a.

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Auf den Hollywood Hills oberhalb von Los Angeles leuchtet mit weißen Großbuchstaben das berühmte Hollywood-Sign als Bild-Symbol der weltweit bekannten Traumfabrik. Über die Gemütsverfassung der dortigen Bewohner hat die Gruppe Sunrise Avenue 2011 gesungen: „This is the end oft he rainbow, where no one can be too sad“.

Für seine Nürnberger Inszenierung des Horvath-Stückes „Kasimir und Karoline“ hat sich Regisseur Georg Schmiedleitner von Stefan Brandmayer ein großes Stahlgerüst auf die Bühne stellen lassen, bei dem oben der Schriftzug „TOMORROW“ blinkt - wohl als Zeichen der vagen Hoffnung auf ein besseres Morgen. Darunter tummeln sich kleinbürgerliche Glückssucher, proletarische Gauner und großbürgerliche Schürzenjäger. Im Original (Uraufführung 1932) war der Schauplatz das Münchner Oktoberfest, wo nach der Meinung des eitlen Kommerzienrates Rauches trotz Weltwirtschaftskrise noch klassenlose Demokratie herrscht, wo der kleine Dienstmann neben dem Geheimrat bei der Maß Bier sitzt. Schmiedleitner hat das Geschehen aber in eine Techno-Disko des 21. Jahrhunderts gebeamt und als Rummelplatz-Zitate nur noch drei Autoscooter, eine Galerie von Dixi-Klos, ein paar Lebkuchenherzen mit der Aufschrift „Ich liebe Dich so wie Du bist“ (jedoch nicht: „Und die Liebe höret nimmer auf“!) und ein Bierglas übrig gelassen. So tönen als Hintergrundmusik auch keine Oktoberfest-Hymnen („Trink, trink Brüderlein trink / Lasse die Sorgen zuhaus“) sondern massive Beats und die Sphärengesänge der Rausch-Gold-Engel Elli und Maria. Aus dem Ausrufer des Raritätenkabinetts wird ein hektischer DJ im Glitzeranzug (Pius Maria Cüppers), der Texte des Berliner Berghain-Bloggers Airen ins Mikrofon bellt. In dieser hitzigen Atmosphäre verhandeln der eben arbeitslos gewordene Chauffeur Kasimir (Stefan Willi Wang, diesmal bemerkenswert zurückgenommen) und die vergnügungssüchtige Karoline (Josephine Köhler mit einer sehr heutigen Rolleninterpretation) ihre Beziehungsprobleme. Während Karoline den vorbeifliegenden Zeppelin bewundert und sich in der Achterbahn ordentlich durchwirbeln lassen will, wird Kasimir zum pessimistischen Sozialkritiker: „Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne, und herunten verhungern derweil einige Millionen!“ Weil dem Kasimir die Lust und die nötigen Scheine zum Spiel des kurzzeitigen Vergessens fehlen, lässt sich Karoline auf diffuse männliche Angebote ein: auf den anfangs verklemmten Zuschneider Schürzinger (schön verbogen: Martin Aselmann) und auf seinen auftrumpfenden Chef Rauch (Michael Hochstrasser). Die Nacht im dichten Trockeneis-Nebel endet in desillusionierender Klarheit, als Karoline erkennt: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“

Nach 18 Jahren als stilbildender Dauergast dürfte sich Georg Schmiedleitner mit dieser soliden Inszenierungs-Arbeit für längere Zeit (für immer?) vom Nürnberger Theaterpublikum verabschieden - zum gar nicht so leisen Servus richtete er bei der Premierenfeier einen Dank an die Besucher, die ihn über die Jahre mit Zustimmung, aber auch mit kritischen Anmerkungen (bis hin zu Buh-Rufen) begleitet haben. Diesmal war der Beifall, trotz der Tatsache, dass man die Bühnensprache des Österreichers mittlerweile gut kennt und daher vor Überraschungen leider sicher ist, ungeteilt.

 

http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,kasimir_und_karoline,109226


Eistanz beim Oktoberfest?
Eistanz beim Oktoberfest?

Kasimir und Karoline **

von Ödön von Horvath

Inszenierung und Textfassung: Abigail Browde & Michael Silverstone ("600 Highwaymen")

Premiere: 11. 8. 2017

Salzburger Festspiele (Universität Mozarteum Salzburg, Großer Saal)

 

Nachdem Fußballvereine, Volksparteien, Musik-Initiativen und Stadttheater-Bühnen das Prinzip Nachwuchsförderung als wichtig erkannt haben, wollten dem die Salzburger Festspiele nicht nachstehen. Es gab einmal ein interessantes Young Directors Project, dem aber vor ein paar Jahren der Sponsor abhanden kam. Nun machten sich die beiden festival-erfahrenen New Yorker Projekt-Theaterkünstler Abigail Browde und Michael Silverstone auf die Suche nach unverbrauchten Gesichtern, sind aber offensichtlich mit ihrem Konzept des partizipativen Theaters an diesem Klassiker des kritischen Volksstücks weitgehend gescheitert. Durch ein frühes Casting wurden 23 Akteure ausgewählt - fast durchwegs ambitionierte Bühnen-Amateure -, die nun im fließenden Rollenwechsel die Texte der Protagonisten nachsprechen. Das wirkt in seltenen Momenten rührend, meist eher unfreiwillig komisch.

Dazu haben die beiden Gruppenleiter, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, den Horvath-Text in eine episch-erklärende Sprachwüste verwandelt ("und dann sagt Kasimir"), der die kritisch-satirische Spannung von Horvaths Dialogen vollkommen ausleiert. Von dem Original-Schauplatz, dem Münchner Oktoberfest während der Weltwirtschaftskrise 1932, ist noch eine kurze Lederhose und ein grüner Trachtenjanker übrig geblieben, ansonsten bewegen sich die Spieler auf einem großen, kargen Holzrechteck, fast wie ein Eislaufplatz, der von einer Holzbande umgeben ist. Mit viel, aber meist sinnfreier pantomimischer Hand- und Fuß-Arbeit wird eine Ringelreihen-Choreografie erzeugt, die an ein VHS-Mehrgenerationenprojekt unter dem Titel "Sprecherziehung und Tai Chi" erinnert. Die für das Stück so wichtige Oktoberfest-Musik als Medium der klassenlosen Verdrängungsmaschinerie ("Solang stirbt die Gemütlichkeit / In München nimmer aus") wurde ebenso gestrichen wie das schrille Abnormitätenkabinett, das an Büchners "Woyzeck" anknüpft. Es zeigt sich, dass die beiden Regisseure mit der Tradition des deutschsprachigen sozialkritischen Volksstücks aus dem 19. und 20. Jahrhundert - also von Büchner bis Kroetz - nicht vertraut sind und statt dessen in ein postmodernes Jungmädchen-Befindlichkeits-Spiel ausweichen, das während einer englischsprachigen Passage mit dem Song "If that is all there is" seinen Höhepunkt findet.

Dann werden noch ein paar Säcke mit Herbstblättern und Kinderpuppen ausgeschüttet - und wieder sorgsam zusammengekehrt -, bis eine der ca. acht Karolinen nach dem großen Aufräumen ihr ambivalentes Schlusswort verkündet: "Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen". Verhaltener Beifall für eine Produktion, die den sich mit vielen Superlativen schmückenden Salzburger Festspielen ein bemerkenswert unprofessionelles Discount-Angebot beimischt.

 

http://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/kasimir-karoline-2017


Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter      ****

von Christoph Marthaler, Anne Viebrock & Ensemble

Inszenierung: Christoph Marthaler

Premiere am 21.9.2016

Besuchte Aufführung: 19.5.2017

Mit Sophie Rois, Irm Hermann u.v.a.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

 

Es ist ein kurzer Theater-Brief zum langen Abschied von der Berliner Volksbühne, den Christoph Marthaler samt Ensemble verfasst hat. Denn auch er wird (wie manche anderen stilbildenden Regisseure) nach dem Ende der Castorf-Ära unter dem neuen Intendanten („Kurator“) Chris Dercon nicht mehr am Rosa-Luxemburg-Platz arbeiten wollen. Somit dürfte dann am 18. Juni 2017 die letzte Chance sein, diese eigenwillige Produktion, eine Mischung aus absurdem Theater, Bewegungs-Theater und meditativem Singspiel vor Ort anzuschauen. Wer sich allerdings von dem gut zweistündigen (pausenlosen) Theaterabend eine dramatische Handlung, pointierte Dialoge oder gar psychologische Entwicklungen einzelner Personen erwartet, wird enttäuscht sein. Marthaler stellt dagegen - wie der an Botho Strauß erinnernde Titel verspricht - Gesichter und Gefühle aus, präsentiert sein Ensemble als Bilder einer Ausstellung, die von einem Hausmeister (Marc Bodnar) herein- und herausgeschoben werden. Dazu passt auch der hohe Raum von Anna Viebrock, der dem Vorbild des derzeit leer stehenden Naturkundemuseums in Basel nachempfunden wurde. Im Hintergrund sorgt der Bühnenaufzug für Bewegung. Die menschlichen Exponate treten dann in eine fragile Beziehung zueinander, vermischen sich, lösen sich auf und singen andächtige Lieder von „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ bis zu Gustav Mahlers „Ich bin aus tiefem Traum erwacht“. Zur Begleitung stehen am Bühnenrand vier alte Heimorgeln, die von Bendix Dethleffsen und Jürg Kienberger bedient werden. Die Start-Auftritte und die Bewegungen der Personen im Raum haben teilweise artistische (Olivia Grigoli), teilweise clowneske Züge (Magne Havard Brekke). Recht selten fallen auch Sätze: Irm Hermann zum Beispiel beschwert sich gleich am Anfang: „Ich hasse diese Wanderausstellungen“. Später öffnet sie umständlich Glückskekse und verliest die aufmunternden Botschaften: „Du sollst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden!“ Ansonsten werden einfach mal absurde Wortfetzen wie Teebeutel eingeworfen. Diese Kollektiv- und Musik-Performance entfaltet zunehmend einen Sog, dem sich der Zuschauer nur schwer entziehen kann, auch wenn sich das Geschehen einer aufgeklärten Analyse weitgehend entzieht. Der Kritiker der „Berliner Zeitung“ verfiel wohl gar in einen traumhaften Schlaf und vermeldete an Ende: „Nicht wecken, bitte“. Bei der Laudatio für Christoph Marthaler, der für diese Produktion im Mai 2017 den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost erhielt, wünschte sich Kultursenator Klaus Lederer noch viele Chancen, den Theater-Utopisten in Berlin zu sehen - fragt sich nur, eventuell wo!

 

http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/bekannte_gefuehle_gemischte_gesichter/


Abendmahl im Auerhaus: Frieder (Christoph Franken) bricht das Brot
Abendmahl im Auerhaus: Frieder (Christoph Franken) bricht das Brot

Auerhaus ***

Nach dem Roman von Bov Bjerg

in einer Fassung von Nora Schlocker und Birgit Lengers

Inszenierung: Nora Schlocker

Premiere am 21.5.2017

Deutsches Theater Berlin (Kammerspiele)

 

Nachdem „Auerhaus“, der kleine, aber feine Roman von Bov Bjerg, am Ende des Jahres 2015 mit frenetischen Rezensionen überschüttet wurde, kletterte er rasch in die Bestsellerliste und erlebt nun (wie bei Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“) den Prozess der multimedialen Weiterverwertung. Das Radio Berlin-Brandenburg produzierte ein Hörspiel, die Constantin arbeitet derzeit an einer Verfilmung (Produzent: Oliver Berben) und im Deutschen Theater Berlin sollte schon im Oktober 2016 eine Theaterfassung uraufgeführt werden. Wegen Erkrankung konnte man diesen Termin nicht halten, deshalb kam das Schauspiel Düsseldorf in den Genuss der deutschen Erstaufführung, die Berliner Version erlebte erst jetzt ihre Premiere.

Die dialoglastige Geschichte erzählt von sechs jungen Erwachsenen (vier davon stehen kurz vor dem Abitur), die sich zu einer „therapeutischen“ WG im Auerhaus (benannt nach dem häufig auf dem Kassettenrecorder laufenden Song „Our House“ von Madness) zusammenschließen und in dieser Idylle der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für eine gewisse Zeit Abstand zu ihren mehr oder weniger schlimmen Alltagsproblemen finden.

Nora Schlocker hat sich in ihrer Inszenierung für die Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin mit großer Energie auf die symbolgeladene Bildsprache des Romans gestürzt: der suizidgefährdete Frieder (Christoph Franken) bahnt sich mit einer Axt den Weg auf die Bühne (Jessica Rockstroh), dieselbe Axt verwendet er auch um den örtlichen Weihnachtsbaum provokativ umzuhauen (der Stumpf steht dann als kleine Installation während der Pause im Foyer!). Am Anfang schleppt sich Frieder weißgekalkt mit Unterhose und Hunde-Beißmanschette ins Rampenlicht, um dann von seinen WG-Genossen reingewaschen zu werden. Das Auerhaus symbolisiert ein selbstzementiertes Rechteck auf der schwarzen Bühne, das von den Bewohnern grundsätzlich nur barfuß betreten wird. Die sechs jungendlichen Akteure spielen neben den Auerhaus-Insassen auch einige Erwachsenen-Rollen als klischeehafte Charakter-Masken. Nach der Pause dürfen die Zuschauer sogar im Sinne eines Perspektivenwechsels Teilnehmer der rauschenden Silvester-Feier auf der Bühne werden. Leider bleiben die anderen Rollen, vor allem der Erzähler Höppner (Marcel Kohler) etwas blass und die musikalische Grundierung des Romans ist wenig präsent. Somit erinnert die verspätete Berliner Produktion an ambitioniertes Jugendtheater, das dem Zuschauer nie ganz vermitteln kann, weshalb er nach der Lektüre des Romans auch noch ins Theater gehen soll.

 

https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/auerhaus/1903/


Foto: Werner
Foto: Werner

Pension Schöller ***

von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby

Inszenierung: Andreas Kriegenburg

Premiere: 22.10.2016 / besuchte Aufführung: 30. 10. 2016

Burgtheater Wien

 

Die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung beschäftigen die menschliche Gesellschaft seit einigen Jahrhunderten; in Dürrenmatts Schauspiel "Die Physiker" stellte sich heraus, dass das Irrenhaus der einzige Platz ist, wo ein normaler Mensch in Ruhe leben kann. Wie man mit diesem Thema die bürgerliche Gesellschaft der wilhelminischen Zeit verstören oder zum Lachen bringen kann, erprobten Carl Laufs und Wilhelm Jacoby in ihrem Schwank "Pension Schöller", der 1890 in Berlin uraufgeführt wurde. Dem wohlsituierten Herrn Klapproth werden im vermeintlichen Irrenhaus "gestörte" Typen vorgeführt, in Wahrheit handelt es sich nur um skurrile und liebenswerte Bewohner einer Frühstückspension. Als da sind der spontane Weltreisende Bernhardy im Tropenanzug (Michael Masula), die leidenschaftlich nach Groschenroman-Stories suchende Schriftstellerin Krüger (Christiane von Poelnitz), der knorrige Major Gröber (Dietmar König) und der Hobby-Schauspieler mit Sprachfehler, Eugen Rümpel (Max Simonischek). Sie alle sorgen für die schwanktypischen Irrungen und Wirrungen, besonders als sie im letzten Akt in die private Welt Klapproths einbrechen. Doch ebenso genretypisch löst sich am Ende alles in Wohlgefallen und innige Paarungen auf. Regisseur Andreas Kriegenburg versucht nun in den ehrwürdigen Mauern des Wiener Burgtheaters die vormoderne Posse in ein postmodernes Comedy-Stück zu verwandeln und in jedem Moment ist die panische Angst zu verspüren, diesen Klamauk auf dem Niveau eines Millowitsch-Theaters zu verhandeln. Es wird also viel Symbolisches und Meta-Ebenenhaftes aufgepfropft: gleich am Anfang platziert der Zahlkellner systematisch eine Bananenschale, Holzlatten werden slapstickhaft geschwungen, Cafe-Tischplatten werden umständlich gehalten und Stühle dienen vorwiegend zum Umfallen. Die Bühne (Harald B. Thor) besteht schließlich aus fünf Backstein-Bauteilen, die zusammen das Wort "Smile"(!) ergeben und viele Auftritts- sowie Abgangstüren enthalten. Die Schauspieler dürfen in manchen Dialogen und Monologen scheinbar frei paraphrasieren und zu kühnen Wortspielen (wie beim Einführungskurs auf der Schauspielschule) ausholen. Inhaltliche Neuschöpfungen wie die Einführung eines Obdachlosen als Spielzeug der zwei jüngeren Mädchen weisen verdächtig in die Richtung Dekonstruktion oder gar Lehrhaftigkeit. Dass trotz dieser recht gewollten Regie-Marotten der ursprüngliche Spaß nicht ganz versandet, ist erstaunlich. Dass trotz einer äußerst länglichen Exposition und mancher schwadronierenden Exkurse das Publikum den gut dreieinhalb Stunden (die Verfilmung von 1960 dauerte knackige 90 Minuten!) überwiegend amüsiert folgt, ist den spielfreudigen und präzisen Akteuren zu verdanken. Zum Ende bleibt dann nur noch die tiefsinnige Frage, ob dieser Käfig voller Narren wirklich am Bühnenrand endet.

 

http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?eventid=966466358


Der letzte Besuch der Mutter (Patricia Litten, m.) bei ihrem Sohn (Philipp Weigand, l.)
Der letzte Besuch der Mutter (Patricia Litten, m.) bei ihrem Sohn (Philipp Weigand, l.)

Der Prozess des Hans Litten (Taken At Midnight) ***

Von Mark Hayhurst

Inszenierung: Jean-Claude Berutti

Mit Patricia Litten u.a.

Premiere: 8.10.2016

Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus

 

Mit einem ambitionierten Projekt startet das Nürnberger Schauspiel in die Spielzeit 2016/2017. Vor ca. zwei Jahren präsentierte der Autor Mark Hayhurst das Doku-Drama über den deutschen Rechtsanwalt Hans Litten zuerst auf der kleinen Bühne in Chichester und dann auf der großen Bühne in London. Seine Hauptquelle war dabei das Buch von Littens Mutter Irmgard aus dem Jahre 1940: „A Mother Fights Hitler“. Diese selbstbewusste schwäbische Pietistin kämpfte nach der Verhaftung ihres Sohnes am 28.2.1933 bis zu dessen Selbstmord im KZ Dachau (am 5.2.1938) um seine Freilassung - immer im Glauben an die Noch-Existenz rechtstaatlicher Strukturen im NS-Staat. Das Besondere an der Nürnberger deutschsprachigen Erstaufführung (in der Übersetzung von Michael Raab) ist die Tatsache, dass das langjährige Ensemblemitglied Patricia Litten die Enkelin von Irmgard Litten ist, sich mit dem politisch-moralischen Kampf ihrer Großmutter ausführlich beschäftigt hat und nun auf der Bühne des Schauspielhauses in ihre Rolle schlüpft. Somit erlaubt die Inszenierung gleich drei Perspektiven auf die Anfangsjahre des NS-Staates nach der Machtergreifung: die persönliche Empathie der deutschen Enkelin, der analytische Blick des britischen Autors Hayhurst und die konkrete Bühnen-Umsetzung des französischen Regisseur Berutti.

Das eigentliche Erlebnis nach etwa zweistündiger Spielzeit bleibt hinter diesen interessanten Voraussetzung deutlich zurück: das Stück ist ein recht konventionelles Opus nach den Regeln des englischen „well made play“ (d.h. auch: mehr drama als doku) mit jener typischen Bühnenhandwerker-Mischung aus pointierten Dialogen, Betroffenheits-Monologen und englischem Humor. Trotz der flotten Szenenfolge fehlt den Stationen dieser Geschichte das überraschende, das erhellende Moment. An wenigen Stellen erfährt man etwas über die bemerkenswerte Sorglosigkeit von Teilen der linken Opposition in den Jahren ab 1930, von der frappierenden Systemtreue gewisser bürgerlicher jüdischer Kreise und von den Dilemmata der britischen Appeasement-Politik gegenüber Hitler. Möglicherweise wäre es für den Autor ergiebiger gewesen, wenn er den berühmten Edenpalast-Prozess (1931), bei dem der Zeuge Adolf Hitler vom Rechtsanwalt Litten in die Enge getrieben wurde, als Gerichtsdrama thematisiert hätte. Regisseur Berutti hat dem doppelten Leidensweg einer Mutter und eines Sohnes eher betuliches Text- und Schauspieler-Theater hinzugefügt: die Drehbühne mit wenigen Accessoires rotiert von Szene zu Szene, die verschiedenen KZ-Stationen Littens werden per abgehängter Stacheldraht-Bühne illustriert, dazu gibt es ein paar halbdokumentarische Video-Einspielungen.

Philipp Weigand tut sich sichtlich schwer mit der schillernden Figur des Hans Litten, seine Schutzhaft-Genossen Carl von Ossietzky (Marco Steeger) und Erich Mühsam (Pius Maria Cüppers) balancieren nahe am Klischee. Michael Hochstrasser als Gestapo-Mann Dr. Conrad und Heimo Essl als Vater Fritz Litten liefern vorhersehbare Rollenmuster. Und Jochen Kuhl als britischer Diplomat Lord Allen kann sich nicht recht entscheiden, ob er akzentfreies Deutsch sprechen soll. Als epischer und dialogischer roter Faden hält Patricia Litten die Inszenierung halbwegs zusammen, ihre Zerrissenheit zwischen dem Kampf gegen eine Tyrannei und der Rettung des eigenen Sohnes wird noch am deutlichsten sichtbar.

Somit hat man in Nürnberg schon zwingendere Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte gesehen („Das Urteil von Nürnberg“) - aber auch schon missglücktere („Das Zeugenhaus“).

 

http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,der_prozess_des_hans_litten_-_taken_at_midnight_dse_,102703

http://www.arsvivendi.com/Buch/Neuerscheinungen/9783869137605-Eine-Mutter-kaempft-gegen-Hitler


"Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als Leben nach Verlassen der heiligen Heimat."
"Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als Leben nach Verlassen der heiligen Heimat."

Die Schutzbefohlenen *****

Von Elfriede Jelinek

Inszenierung: Bettina Bruinier

Premiere: 20.2.2016

Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus

 

Seit 2013 verfasst die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek „Textflächen“ zu dem aktuellen Thema „Flüchtlinge“. Nach der Uraufführung 2014 in Mannheim versucht sich nun das Nürnberger Staatstheater an einer mittlerweile fortgeschriebenen Fassung (diese ist kostenfrei nachzulesen auf Elfriede Jelineks Homepage - siehe Link unten). Das bedeutet viel Arbeit für Dramaturgie (Horst Busch) und Regie (Bettina Bruinier). Die beiden haben das umfängliche Textgerüst luftig perforiert, auf die gut verträgliche Dauer von 100 Minuten gekürzt und zu einem intensiven szenischen Arrangement für sieben SchauspielerInnen komponiert. Dabei bleibt Jelineks Grundanliegen unverstellt: sie will mit ihren sprachlichen Jelineckereien die vieltönende Kackophonie der öffentlichen Stimmen zu diesem Thema provokant persiflieren und gleichsam als semidramatischen Po-Etry-Schlamm vor dem Publikum auswälzen. Durch das assoziationsreiche Sprachgewitter schimmern drei Haltungen der Autorin durch: Empathie für die Flüchtlinge, Zorn über die Regierenden und Meinungsmachenden sowie Ratlosigkeit angesichts eines existenziellen Jahrhundert-Phänomens. Wenn sich die wortspielreichen Satzkaskaden im Zuschauerraum niederschlagen, erlebt man eine Mischung aus dem fränkischen Comedy-Drechsler Oliver Tissot (NATO oder Nahtod-Erfahrung?), dem frühen Publikumsbeschimpfer Peter Handke und einem aufgehübschten Dada-Manifest zur 100-Jahr-Feier. Das verlangt viel Konzentration, bietet aber auch gehobene Aha-Effekte. Das versierte und textsichere Nürnberger Kollektiv (Bettina Langehein, Julia Bartolome, Mareile Blendl, Philipp Weigand, Daniel Scholz, Thomas Nummer, Frank Damerius) kämpft sich mit großer Verve durch die Wortwindungen, kann sowohl solistisch als auch choristisch überzeugen. Politische Provokation (das beliebte Ösi- und Ungarn-Bashing), satirisches Querdenken (eine atemlose Helene-Fischer-Parodie oder ein Gedankenspiel zur Zivilisation durch das Dixi-Klo) und Einbeziehung des Publikums sorgen für stete Abwechslung. Durch Musik und Video-Installationen, durch präzise Bildsprache (Rettungswesten, Wasserkanister als Symbol für Hilfe und Verderben zugleich) entsteht ein fesselndes Gesamtkunstwerk für Augen, Ohren und Verstand. Wenn sich nur die Menschen genauso bewegen ließen wie die Hebebühnen des Nürnberger Theaters! Oder - um mit der Autorin zu reden: „Ich möchte den Tag erleben, … an dem wir keinen Zorn mehr brauchen.“

PS: Das ist doch wieder einmal eine kesse Anmeldung aus der Provinz für die nächsten Berliner Theatertage 2017!?

 

http://www.elfriedejelinek.com/

http://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,die_schutzbefohlenen,95659


Familien-Aufstellung beim Seewirt
Familien-Aufstellung beim Seewirt

Mittelreich ****

Musiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler

Inszenierung: Anna-Sophie Mahler

Uraufführung: 22.11.2015

Münchner Kammerspiele

 

Immer wieder hört man den Vorwurf, dass das Theater der Gegenwart die reiche Fülle an dramatischer Literatur nicht nutzt und stattdessen in die Bearbeitung von epischen Werken flüchtet. Dies tun nun auch auf Anregung von Intendant Matthias Lilienthal die Regisseurin Anna Sophie Mahler und die Dramaturgin Johanna Höhmann, indem sie „Mittelreich“, den Roman-Bestseller von Schauspieler Josef Bierbichler (erschienen 2011 bei Suhrkamp) einer szenischen Bearbeitung unterziehen.

Die Geschichte erzählt von der Seewirtschaft und ihren Be- und Mitwohnern, der großen Familie über drei Generationen mit einem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945. Zum Personal des Hauses gehören u.a. der Seewirt Pankraz, der Wagner-Opern in seinem Zim­mer anhört, das Fak­totum Viktor Hanusch, das Fräulein von Zwittau (eine Hermaphroditin!). In dem großen Haus spiegeln sich ländliches Leben, städtischer Zeitgeist, exis­tenzielle Lebenskri­sen, persönliche Tragödien, religiöse Doppelmoral und Friktionen des „Wirtschaftswunders“. Die Menschen sind „mittelreich“, nicht reich, aber auch keine Hungerleider. Der Tod ist der ständige Begleiter der Hauptpersonen (Krieg, Blitzschlag, Altersschwäche). Der jüngste aus der Seewirts-Familie (Semi) wird zum Opfer klösterlicher Inter­natserziehung - ob er die Tradi­tion weiterführen kann, bleibt offen.

Mahler und Höhman haben Bierbichlers breit angelegten Erzählduktus sinnvoll komprimiert, auf sechs Personen reduziert, den oberbayerischen Lokalkolorit weitgehend getilgt und alles mit einem eindrucksvollen musikalischen Background versehen. Die karge Bühne, die nur ein paar Stühle, einen Tisch und eine alte Radio-Plattenspieler-Kombination braucht, zeigt auf zwei Ebenen (Vordergrund / Hintergrund) die Zeitebenen im 20. Jahrhundert, von etwa 1914 bis 1970. Davor öffnet sich ein kleiner Orchestergraben für zwei Flügel, eine Pauke und die Dirigentin Julia Selina Blank, die das Junge Vokalensemble München im 1. Rang und auf der Bühne einfühlsam steuert. Musikalisches Leitmotiv ist Johannes Brahms' „Deutsches Requiem“, das zunächst bei der Beerdigung des alten Seewirts gesungen und dann passagenweise in die Handlung integriert wird. Das eher statuarische Agieren der Schauspieler (Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch und Damian Rebgetz) erinnert zum Teil an Kroetzsches Volkstheater, wenn nicht gar an Beckettsche Endspiele. Höchstes Lob für diese eindrucksvolle Aufführung: Eine Einladung zu den Berliner Theatertagen 2016!

 

https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/mittelreich