Der Lehrer hat als literarische Figur der Moderne eine durchaus wechselvolle Geschichte. Während er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur als "kleiner Tyrann", als bedrohlicher Autorität gesehen wurde, der - wie etwa in Heinrich Manns Roman "Professor Unrat" - Schüler "fassen" oder unter das Rad eines unerbittlichen Leistungsdrucks zwingen will, so beginnt mit dem weithin vergessenen Roman von Hermann Ungar, "Die Klasse" (1927) ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel: Nicht mehr die Schüler haben Angst vor den Lehrern, sondern Angst hat der Lehrer (hier: Josef Blau) vor seinen Schülern. Er erkennt instinktiv, dass das System der unhinterfragten Autorität (nicht nur in der Schule) eigentlich zusammengebrochen ist und nur noch mühevoll durch Distanz und bloße Härte aufrecht erhalten werden kann. Der verzweifelte Kampf gegen die Kraft der Jugend und gegen die demokratische Modernisierung kann nur verloren werden und in einer Situation der Lächerlichkeit enden.
Diese Tendenz setzt sich in den literarischen Beispielen der letzten 30 Jahre fort. Ulrich Rüdenauer spricht in einem Essay (2012) davon, dass Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs den neuen deutsche Roman beherrschen, Lehrer, bei denen eine Lebenskrise so massiv spürbar ist, dass sie nichts weitergeben könnten, was über eine Unterrichtseinheit hinausreicht. Wenn sie dann an einzelnen Schülern Nähe versuchen und pädagogische Ambitionen entwickeln, endet das meistens in emotionaler Verwirrtheit oder ähnlichen Katastrophen. Deshalb erscheint im Überblick und in der zusätzlichen Eingrenzung auf den Germanisten der Titel vom gescheiterten Deutschlehrer durchaus angebracht. An zehn Beispielen der Gegenwartsliteratur kann dieser Befund präzisiert werden.
Vor der inhaltlichen Betrachtung soll aber die Frage gestellt werden, was den (Deutsch-)Lehrer überhaupt zu einer literarischen Figur qualifiziert und was ihn vielleicht von anderen Berufsgruppen abhebt.
Da ist zum einen die Tatsache, dass jeder (d. h. auch jeder zur Schriftstellerei Berufene) mit der Spezies zu tun hatte und - mitunter leidvolle - Erfahrungen sammeln konnte. Zum anderen sind Deutschlehrer nach wie vor in gewisser Form Autoritäten, die im Scheitern eine sichtbare Fallhöhe gewährleisten. Des Weiteren sind Deutschlehrer Akademiker mit einem berufstypischen Reflexionsvermögen, mit der Fähigkeit zum substantiellen inneren Monolog. Schließlich - und das ist in vielen Beispielen besonders ausgearbeitet - sind Deutschlehrer Literaturkenner und Literaturvermittler, sie bieten dadurch einen erzählerischen Ansatz für Intertextualität, für die Kombination von vordergründiger Handlung und literarischem Subtext.
Dies kann an zahlreichen Beispielen nachgewiesen werden: Lehrer Klamm liest mit seinen Schülern Goethes "Faust", Szymon Smutek wagt sich mit dem Deutsch-Leistungskurs sogar an Musils "Mann ohne Eigenschaften", Waldemar Schetelich, der "Deutschgeber", lässt seine Tochter Wanda Goethe-Gedichte rezitieren, Emil Bub aus Anna Katharina Hahns Roman "Am Schwarzen Berg" ist ein leidenschaftlicher Mörike-Forscher. Lehrer Anton aus Norbert Gstreins "Eine Ahnung vom Anfang" will mit ungewöhnlichen Lesevorschlägen (z. B. Hermann Broch, Albert Camus) seine Schüler zum unangepassten Denken erziehen und bei Sylvie Schenk steuert der Lehrer Erik Jansen im Unterricht mit der Interpretation von Kafkas Parabel "Der Aufbruch" in die berufliche und private Katastrophe.
Welche personentypischen Konflikte werden nun an den Deutschlehrern in den behandelten Werken beleuchtet? Zunächst finden sich Symptome der beruflichen Ermüdung verbunden mit fachspezifischen Dilemmata: besonders stark ausgeprägt ist das bei dem Lehrer Klamm, der deutlich alkoholgefährdet ist, von jüngeren Kollegen gemobbt und aufgrund seiner Notengebung von den Schülern attackiert wird. Seine Kritik an der Illiteralität der jungen Generation (fehlende Literatur- und Sprachkenntnisse) und an dem Missverständnis von der Schule als "Spaßgesellschaft" korrespondiert mit der Unfähigkeit zur altersgerechten Literaturvermittlung. Ähnliche Merkmale finden sich auch bei dem kurz vor der Pensionierung stehenden Deutschlehrer Emil Bub, der in seinem Auto stets eine Schnapsflasche mit sich führt und seinen Rückzug aus dem Schulalltag in der Mörike-Forschung findet. Für Norbert Gstreins Deutschlehrer Anton besteht der Rückzug im naturnahen Leben in einer alten Mühle am Fluss während der Sommerferien, später wird er dort seine gesamte Zeit verbringen wollen und der Schule den Rücken zukehren.
Dennoch ist bei vielen dieser literarischen Deutschlehrer noch ein pädagogischer Impetus zu erkennen, nämlich der Versuch, literarische Standards oder zumindest Freude an gehobener Literatur an die Schülergeneration weiterzugeben. Bezeichnenderweise sind jedoch alle diese Versuche durch ein abschließendes Scheitern gekennzeichnet. In vier Fällen erfolgt eine Annäherung an den/die Lieblingsschüler/in über die Brücke der Literatur, sie endet aber in gefährlicher (sexueller?) Nähe und damit im beruflichen Aus.
Waldemar Schetelich deklamiert beim privaten Nachhilfeunterricht für die Schülerin Esther Goethe-Elegien, während sie auf seinem Schoß sitzt; Szymon Smutek lässt sich auf Sex-Spiele mit der hochintelligenten Schülerin Ada (15) ein und wird dann zum Opfer einer Erpressung durch einen Mitschüler Adas; Erik Jansen findet in der Schülerin Johanna eine herausragende Gesprächspartnerin, wenn es - fernab der Textanalyse-Standards - um die Interpretation einer Kafka-Parabel geht, dies führt aber zu unzulässigen Weiterungen. Lehrer Anton trifft sich regelmäßig mit seinem Lieblingsschüler Daniel, gibt ihm weiterführende Lektüre-Tipps und muss dabei erkennen, wie sich in der österreichischen Provinz Vorverurteilungen und Verdächtigungen aufbauen.
Für praktisch alle angesprochenen Deutschlehrer ergibt sich also am Ende ein persönliches Scheitern, verdeutlicht in der Unmöglichkeit den Beruf weiter auszuüben: Lehrer Klamm lässt sich (auf Nimmerwiedersehen?) zur Kur schicken, Emil Bub nähert sich sowieso der Pensionsgrenze, Waldemar Schetelich darf in der neuen gesamtdeutschen Republik seinen Beruf nicht mehr ausüben, Szymon Smutek verlässt Schule und Frau und macht sich mit der Lieblingsschülerin auf den Weg in den Osten, Lehrer Anton quittiert selbst den Dienst und Erik Jansen entgeht nur durch freiwillige Versetzung in das Nachbarland Holland einer peinlichen Affäre und einer disziplinarischen Untersuchung.
Eine Sonderstellung in diesem Überblick nimmt Peter Schneiders Roman "… und schon bist du ein Verfassungsfeind" ein. Hier wird der Deutsch-Referendar Matthias Kleff gar nicht zur Verbeamtung zugelassen, weil - ganz im Sinne des Radikalenerlasses der 70/80er Jahre - Zweifel an seiner Verfassungstreue bestehen. Dem Vorwurf der sexuellen Nähe zu jungen Mädchen und der fehlenden politischen Correctness - etwa beim Thema Nahost-Konflikt - sieht sich auch Joachim Linde in Jakob Arjounis Roman "Hausaufgaben" ausgesetzt, bei ihm erklärt sich aber die Lehrerkonferenz solidarisch, wohingegen sein Familienleben in eine dick aufgetragene Katastrophe schliddert. Ganz aus dem Rahmen fällt Judith W. Taschlers Roman "Die Deutschlehrerin", da hier nur (auf literarisch bescheidenem Niveau) die scheiternde Beziehung einer sehr engagierten Deutschlehrerin zu einem Schriftsteller ausgebreitet wird.
Abschließend soll noch eine literaturdidaktische Anmerkung erlaubt sein. Wenn Autoren (wenige davon mit eigener Unterrichtserfahrung) über Deutschlehrer schreiben, sind Deutschlehrer natürlich dankbare Leser, da sie sich in der literarischen Person wiederfinden oder sich von ihr abgrenzen können. Darf man aber auch ein Interesse von Schülern an dieser Thematik erwarten, was ja wohl die Voraussetzung für eine gelingende Schullektüre sein sollte? Unter diesem Aspekt fallen für mich zahlreiche hier aufgeführte Beispiele durch, denn z. B. die Midlife Crisis eines Deutschlehrers (wie in Martin Walsers "Das fliehende Pferd") berührt die Erfahrungswelt der Jugendlichen kaum. Anders sieht es aus, wenn das Verhältnis eines Lehrers zu einem/r Schüler/in oder zu einer Klasse thematisiert wird, denn nun können gerade auch Erfahrungen aus der Schülerperspektive gewinnbringend eingebracht werden. Somit erlaube ich mir auf die Titel hinzuweisen, die diesem Anspruch wohl am ehesten gerecht werden: Sylvie Schenks Roman "Der Aufbruch des Erik Jansen", Kai Hensels Monodrama "Klamms Krieg" und Kerstin Hensels Novelle "Der Deutschgeber".
Ein Postskriptum zum endgültigen Abschluss: wenn dem geneigten Leser die Deutschlehrer suspekt sind, kann er sich auch mit einer Biologielehrerin (Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe), mit einem Kunsterzieher in der schwedischen Provinz (Klaus Böldl, Der nächtliche Lehrer), mit einem suspendierten Physiklehrer (Nina Bußmann, Große Ferien) oder einem Musiklehrer (Jan Böttcher, Das Lied vom Tun und Lassen) literarisch auseinandersetzen.
vgl. dazu: Jana Mikota: Lehrer als Täter - Schüler als Opfer, oder doch umgekehrt. Schule in der Gegenwartsliteratur; in: Der Deutschunterricht 1/2014, S. 70 - 78
Ulrich Rüdenauer: Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs; www.zeit.de/kultur/literatur/20122-04/lehrer-romane
Literarische Annäherungen an letzte Menschen
von Wolfgang Reitzammer
Beim periodisch kursierenden Thema Weltuntergang sind nicht nur religiöse Aber-Glaubensgemeinschaften (Maya-Kalender), Naturwissenschaftler oder die politisch Verantwortlichen aufgerufen, auch für den Bereich der Kultur bietet sich hier ein eindringliches Sujet. Auf dem Feld der fiktionalen Erzählung kann man allerdings noch einen Schritt weitergehen und sich fragen: Was passiert, wenn nach der Apokalypse noch eine(r) übrig bleibt? Wie verhält sich der Mensch, der ja als soziales Wesen definiert ist, wenn er feststellt, der letzte/der einzige zu sein?
Diesen Überlegungen sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere AutorInnen nachgegangen und dabei zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen gekommen.
Überwiegend sind es Männer, die als letzte Menschen porträtiert werden; in zwei Fällen handelt es sich um antropophobe Einzelgänger, die sich für intellektuell überlegen halten und für die die neue Situation gar keine echte existenzielle Herausforderung darstellt. Der Ich-Erzähler in Arno Schmidts "Schwarze Spiegel" (1951) sagt sogar lakonisch: "ach es war doch gut, daß Alle weg waren". Bei Guido Morselli ("Dissipatio humani generis", 1977) begegnen wir einem eremitisch lebenden Selbstmord-Kandidaten, dem die neue Einsamkeit neuen Spiel-Raum in der leeren Stadt (Zürich) bietet. Für den 40jährigen Lorenz (in Jürgen Domians "Der Tag, an dem die Sonne verschwand" - 2008) und für den etwa gleichaltrigen Jonas (in Thomas Glavinic‘ "Die Arbeit der Nacht" - 2006) bedeutet die unmenschliche Situation jedoch eine soziale Katastrophe, ein Herausreißen aus gewohnten Zusammenhängen und Beziehungen. Sie reagieren darauf mit quälerischen Selbstreflexionen und eher ziellosen Erkundungs-Touren (Ist da noch jemand?). Demgegenüber wirkt Anton L. (in Herbert Rosendorfers "Großes Solo für Anton" - 1976) eher wie das narrative Kunstprodukt eines satirischen Erzählers. Die einzige Autorin in dieser thematischen Reihe beschreibt auch die einzige Frau als letzten Menschen: Marlen Haushofer mit "Die Wand" (1963) - jetzt auch eindrucksvoll verfilmt mit Martina Gedeck in der Hauptrolle. Etwas aus dem Rahmen der hier vorgestellten Prosawerke fällt Carl Amerys Fantasy(?)-Roman "Der Untergang der Stadt Passau" (1975). Nach einer Seuche, die höchstens jeweils einer von 50 000 Menschen überlebt hat, gibt es noch regional isolierte Personengruppen, die später miteinander in Kontakt treten und um die richtige Strategie einer neuen Welt ringen.
Über die Hintergründe der Katastrophe gibt es zwar vereinzelte Reflexionen, doch niemals wird eine stichhaltige Erklärung mitgeliefert. Bei Arno Schmidt könnte ein Atom-Krieg die Ursache sein,
bei Carl Amery ist es eine Seuche als Folge der spätindustriellen Lebensweise, bei Jürgen Domian eine Klimakatastrophe. Die gläserne Wand, die sich bei Marlen Haushofer um die Protagonistin
schließt, versteht sich ohnehin nur als symbolisches Konstrukt. Die Zerstörung auf der anderen Seite der Wand wurde als Folge einer Neutronenbombe gedeutet.
In drei Romanen bleiben die letzten Menschen trotz intensiver Suche allein und steuern auf den eigenen Tod oder auf ein offenes Ende hin. Anders bei Arno Schmidt und Jürgen Domian: dort treffen die Isolierten jeweils auf einen zweiten Menschen, der allerdings bald wieder verschwindet. Marlen Haushofers Ich-Erzählerin stößt am Ende des Romans auf einen Mann, den sie aber erschießt, weil er mit dem Messer auf ihren Stier losgegangen ist. Eine weitere Fortpflanzung der verbliebenen Menschheit wird damit unmöglich - für die Hauptperson ist nun das Alleinsein ein selbstbestimmter Akt, nur Tiere bleiben als Bezugsobjekte.
Diese Beobachtung verweist fast zwingend auf ein Phänomen, das allen Werken gemeinsam ist: nicht die Apokalypse ist das Thema sondern das Individuum, das sich auch heute schon als Einzelkämpfer in der Welt des Kapitalismus und Materialismus verstehen kann.
Es lohnt sich, die sieben Titel in Folge zu lesen - wer nicht so viel Zeit hat, dem sei punktuell empfohlen: Carl Amery für Öko-Utopisten; Jürgen Domian für konventionelle Leser; Thomas Glavinic für "moderne" Menschen; Marlen Haushofer für sensible, vorzugsweise weibliche Natur-Liebhaber; Guido Morselli für an sich selbst zweifelnde Philosophen; Arno Schmidt für selbstsichere Zyniker. Dem leseunwilligen Rest sei wenigstens die Frage gestellt: Was würdest Du tun, wenn …?
vgl. dazu: Judith Schossböck, Letzte Menschen. Postapokalyptische Narrative und Identitäten in der Neueren Literatur nach 1945, Bochum 2012