Historische Presse-Ausgrabungen aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
Nürnberger Zeitung vom 30.September 1978
Kollektiv der Geschmäcker
Im musikalischen Wechselbad von James Last
Bei James Last tut sich der Kritiker schwer: ausverkaufte Tourneen, begeisterte Zuschauer, stapelweise Goldene Schallplatten, Ehrungen und Auszeichnungen, ständige Fernseh-Präsenz; was er macht, macht er wohl perfekt: Unterhaltungsmusik.
Dafür ist ihm auch auf der Bühne nichts zu teuer. In der vollen Meistersingerhalle wurden annähernd 50 Mann unter ein gigantisches Beleuchtungs-Gerüst gepfercht, um zweieinhalb Stunden lang den vielgerühmten Last-Sound zu produzieren. Was ist nun daran so faszinierend? Zugegeben, da stecken ein ausgekochter Rhythmus dahinter und auch ausgefeilte Arrangements. Bass und Schlagzeug treiben die Band in einen harten Beat, die Bläsersätze brechen kernig ein und so ein Unisono-Einsatz der versammelten Streicher läßt schon die Ohren klingen.
Das Erfolgsgeheimnis des Hansi aus Hamburg liegt aber zweifellos im Repertoire. Denn ein noch so gutes Orchester müsste am Massenpublikum scheitern, wenn es originalgetreue, künstlerisch anspruchsvolle Versionen wählen würde, wenn es sich in Randbereiche der E- und U-Musik wagen würde. James Last hat dagegen die Polit-Formel von der "Solidarität der Demokraten" in ein "Kollektiv der durchschnittlichen Musik-Geschmäcker" umarrangiert, er praktiziert echten Pluralismus im Show Business.
Er weiß, Pop kommt von populär, erlaubt ist, was gefällt, und so präsentiert er im rhythmusbetonten Big Band Sound ein Wechselbad von Country und Klassik, von Rock und Romanze, von Pop und Polka. Bei dem Opern-Zwischenspiel aus "Notre Dame" dürfen die Geigen schwelgen, beim Musical-Exzerpt aus "West Side Story" die Trompeten schmettern und beim Elvis-Medley die Gitarren jaulen - Hauptsache, man trifft sich in Kürze wieder im Mittelmaß konsumierbarer Funktionsmusik.
Mit dieser teilweise recht dick aufgetragenen Eintopf-Methode bringt James Last ein disparates Publikum in die Säle: Oma trommelt den Disco-Beat auf der Sitzlehne und der Enkel kriegt bei „Besame Mucho“ feuchte Augen. Bei einer ausgelassenen Faschingsparty ließe ich mich sicher gerne von Last & Co. unterhalten, wie von einer Simmel-Lektüre am Urlaubsstrand oder einem Reinecker-Krimi am Feierabend. Doch die Mittel, mit denen so eine "wertfreie" Unterhaltung erzeugt wird, hinterlassen zwangsläufig einen faden Nachgeschmack. Alle musikalischen Güte-Kriterien zu übersehen, nur um einer möglichst großen Menge möglichst viel, möglichst gute Stimmung zu liefern, das kann doch der Weisheit letzter Schluss nicht sein.
H. W. R.
Nürnberger Zeitung vom 1. Oktober 1973
Greatest Hits mit Fransen
Zuvor hätte Mick Jagger in einer Zeitung angekündigt: "München wird uns, heute Abend zu Füßen liegen." Nun, es kam nicht so, denn die Zeiten, als Stones-Fans nach dem Motto "I Can't Get No Satisfaction" Hallen-Mobiliar kleinschlugen, sind vorbei. Das Münchner Konzert zeigte eindeutig, dass die Musik der Gruppe zwar nach wie vor im Prinzip aggressiv ist, aber bei ihrer Show die Leidenschaft gebremst und die Emotion kalkuliert ist.
Es begann mit einer Demonstration modernen Rock-Managements (der Veranstalter hatte sich eine Karate-Schule als Ordnungsdienst bestellt) und einem flotten Opener von Billy Preston, dessen rhyth-musbetonter Sound als Anheizer gerade recht war.
Danach 80 Minuten Rolling Stones. Sie spielten Stücke, die jeder kennt, ein hektisches pausenloses Greatest-Hits-Programm. Ein Grund, warum das noch viele Leute kalt ließ, war ausgerechnet Mick Jagger: Er hat offensichtlich bei seinen Kollegen David Bowie und Alice Cooper abgeschaut. Geschminkt, mit Glitter und Fransen, präsentierte er sich als der Schauspieler vor einer donnernden Musik-Kulisse. Doch auch ohne ein Purist zu sein, fand ich z. B. seine zickige Show zu einem so schönen Blues wie "Midnight Rambler" albern und überflüssig.
In seinem Schatten blieb der hervorragende Mick Taylor, der nur bei einem kurzen Gitarren-Solo seine Ausdrucksfähigkeit andeuten konnte. Die mangelhafte Aussteuerung der Verstärkeranlage brachte es mit sich, dass Drummer Charlie Watts gänzlich unterging, dagegen aber die dreiköpfige Bläsersektion mit Chef Bobby Keys schrill wie eine Kreissäge klang. Keys' Saxophon Riff machte immerhin "You Can‘t Always Get What You Want" zur zweitschönsten Nummer des Abends.
Was bleibt: ein Finale, das viel Skepsis löste, das die Zurückhaltung beendete, das die eigentliche Stärke der Rolling Stones bewies. "Jumping Jack Flash" und "Street Figthin Man" ließen den Eindruck aufkommen, als hätte die Gruppe sich erst jetzt richtig warmgespielt. Rhythmus, Sound, Bewegungen, alles passte nun zusammen, die Musik "rockte" im eigentlichen Sinne, es war hart schneidend, stampfend, schwitzend und was für unpassende Ausdrücke man noch dafür finden mag. Im Text des letzten Stückes heißt es: "What can a poor boy do / except to play in a Rock 'n Roll band." Die Stones sind zwar keine armen Jungs mehr, aber sie können es immer noch.
H. W. R.
Nürnberger Zeitung vom 24. Juni 1985
Guter Mensch
Die Theaterspiele auf der Freitreppe vor der St. Michaelskirche in Schwäbisch Hall feiern ihr 60. Jahr. Doch bei der ersten Premiere mit Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ sah man wenig Jubiläums-Stimmung, dafür besorgte Blicke in den wolkenverhangenen Himmel, in Decken eingemummte, vor sich hinfröstelnde Besucher: das Klima drückt auf die Kultur-Konjunktur.
Da ist es Intendant Achim Plato anzurechnen, dass er auch in diesem Jahr nicht der Versuchung nachgibt, mit touristenfreundlichem Unterhaltungs-Theater aufwärmen zu wollen, die Butzenscheiben- und Fachwerk-Romantik der umliegenden Altstadthäuser in den Spielplan einzubeziehen. Er selbst versucht sich zum wiederholten Male am "Jedermann", dazu jener "gute Mensch" zur Eröffnung und - Überraschung! - Becketts "Warten auf Godot".
Genug des vorauseilenden Lobes, denn das Vergnügen an der Brecht-Parabel war nur ein geringes. Ausstatter Gralf-Edzard Habben hat in den Zuschauerraum einen Laufsteg und auf die Treppe ein Holzpodest gezimmert, darauf wird der Tabakladen der Shen Te in die Szene geschoben. Dies schafft Spielraum, andererseits müssen die Akteure, wenn sie die Treppe hinaufwollen erst über oder unter dem Podest durchklettern - mühevolle Arbeit. Wozu noch ein bisschen Wohlstandsmüll herumliegt, bleibt ungeklärt. Die Götter, auf der Suche nach einem guten Menschen (Herbert Stass, Dinah Hinz, Karl-Heinz Windhorst), wandeln im dunklen Anzug heran, einer dokumentiert mit der Polaroid-Kamera. In den nächsten Auftritten erscheinen sie zunehmend abgerissen, um schließlich mit rosa Nebel in der Kirche zu verschwinden.
Das Inszenierungsproblem liegt da eher in der Hauptperson, wobei mir Sibylle Brunner (vom Staatstheater Karlsruhe) weder als liebende Prostituierte Shen Te noch als geschäftstüchtiger Vetter Shui Ta gefällt. Da reizlose Deklamation mit naturalistischen Untertönen, dort überstilisierte Pose (Posse?) mit dunkler Sonnenbrille - oder: Johanna von den Schlachthöfen trifft Arturo Ui in Chikago? Jedenfalls hat der Polizist (Benno Felling) die Uniform eines US-Cops.
Am Stromleitungsmast will sich der Flieger Yan Sun aufhängen, aber der glattrasierte Ulrich von Dobschütz sieht so gar nicht wie eine arbeitslose Existenz aus, und als Aufseher in Shui Tas Firma kriegt er gleich prägnantere Züge.
So bleiben von einer durchschnittlichen Inszenierung, für die Carsten Bodinuns (derzeit Karlsruhe) verantwortlich zeichnet, nur ein paar Bilder länger haften: der pralle Wasserverkäufer Wang des Norbert Schwientek, die bedrohliche Enge im Tabakladen, als die Verwandtschaft einfällt, der Rundmarsch der Arbeiter um die Kirche zum Rhythmus der Trommel und die präzisen musikalischen Beiträge aus der fast versteckten Empore. Auf den Appell des Epilogs "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!" gab es wohlwollenden Beifall und Nachdenken in der umliegenden Gastronomie.
H.W.R.